Österreich - Deutschland. Die Geschichte, wie es ohne einander gar nicht geht und miteinander nicht besonders.

 

Beziehungen zwischen Staaten mit gleicher bzw. ähnlicher Muttersprache haben naturgemäß eine komplizierte Struktur, abgesehen davon, daß es solcher Beispiele sehr wenige in unserer derzeitigen Weltordnung gibt, zumindest in der sogenannten zivilisierten Welt. Es war kein Zufall, daß Österreich zur ehemaligen DDR sehr enge und meist pro­blemlose Kontakte unterhielt, galt es doch vor allem darum, die BRD spü­ren zu lassen, daß das Etikett "deutsch" nicht allein von den Touristen aus dem Norden unter Beschlag genommen werden kann. "Es darf, auch in dem heutigen sehr ernsten Zusammenhang, ausgesprochen werden, daß Österreich unter den Ländern der Erde eines der von den Deutschen un­gekanntesten oder schlechtest gekannten ist. Österreich liegt Deutschland so nahe und wird dadurch übersehen." 1) Dieses Urteil von Hofmannsthal hat, unabhängig davon, ob es "wahre" Sachverhalte wie­dergibt oder nicht, in vielen Bereichen auch heute noch durchaus seine Gültigkeit in Hinblick auf die Einschätzung Deutschlands aus österreichi­scher Sicht. Absicht der folgenden kurzen Überlegungen ist es, diese Perspektive einer österreichischen Deutschlandrezeption etwas genauer zu beschreiben versuchen. Wie immer bei solchen Versuchen, sind alle Ausführungen höchstens Denkanstöße, wollen weniger "erklären" als auf mir wesentlich erscheinende Fragen, Konfliktherde, Agressionsmomente hinweisen.

 

 

I. Historisches. Die Piefkes. Die Preißn.

 

Damit sind all jene ge­meint, die in Deutschland, früher aufgeteilt in BRD und DDR, wohnen. Unterschiedliche Einschätzungen von Ost- bzw. Westdeutschen wurden niemals gemacht. Der "klassische" Piefke war in Österreich selbstver­ständlich einer jener neureichen, arroganten Kriegsverlierer, der als Tourist ins Land kam, um sich so aufzuführen, als sei er zuhause. Er war also, bis zur deutschen Wiedervereinigung, immer ein Westdeutscher, obwohl auf den die Begriffe "Piefke" oder "Preuße" 2) nun gar nicht zu­treffen. Zur Ex-DDR pflegte Österreich immer ein gutes Verhältnis, es gab zahlreiche Abkommen, Zusammenarbeit auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene, die beiden kleinen deutschsprachigen Länder, nach eigenem Selbstverständnis eher Opfer, auf keinen Fall aber Täter während des Nationalsozialismus, im Grunde eigentlich Kriegsgewinner und dann doch eher als zweite Wahl einge­stufte "Nationen", praktizierten einen relativ engen Schulterschluß, um die sich schamlos mit dem Wirtschaftswunder brüstenden Nordlichter, so gut es eben ging, in ihre Grenzen zu verweisen. So gilt ein recht merk­würdiger Tatbestand auch heute noch: mit "Piefke" und "Preißn" sind nicht jene gemeint, für die die Begriffe ursprünglich gedacht waren, es sind dies in Österreich weder Bezeichnungen für Ordnungsliebe, Perfektion, Genauigkeit, Zielstrebigkeit noch für politische Zuordnungen, sie stehen alleine für "besserwisseri­sche Mercedesfahrer". Solche Ungenauigkeiten oder schlicht falsche Zuordnungen sind natürlich keine österreichische Besonderheit, sie lassen sich überall anders auch dokumentieren und ha­ben selbstverständlich auch ihre Ursachen. Die Schlacht bei Königgrätz und zwei demütigende Weltkriege, drei gewaltige Niederlagen also, nach denen das eigene Selbstverständnis jedesmal mühsam wieder rekonstru­iert werden mußte, und über und hinter al­lem der noch immer nostalgi­sche Zauber der großen KuK-Vergangenheit, bestimmen bis heute noch die Gefühle, wenn man in Österreich über Deutschland spricht. Der öster­reichische Schilling ist seit den 70er Jahren fest an die DM gebunden, die österreichische Wirtschaft ist ohne Investoren aus Deutschland oder ohne Einnahmen aus dem Fremdenverkehr (63 Milliarden Schilling im letzten Jahr) schlicht un­denkbar. Man ist also, von großen, unvorhersehbaren Entwicklungen, Revolutionen einmal abgesehen, auf Gedeih und Verderb an den großen Nachbarn gebunden. Auf finanzieller Basis herrscht abso­lute Kongruenz und sogenanntes friedliches Nebeneinander.

 

 

II. Differenzen. Bunte Steine.

 

- Deutschland ist ein Bundesstaat. Österreich auch. Aber was für ei­ner. Der Wiener

  Zentralismus steht für ganz Österreich, alles andere ist tiefste Provinz.

- Die Deutschen haben eine eigene Sprache, oder tun zumin­dest so als ob, Österreich

  hat nicht einmal einen eigenen Duden, und dort kommt man höchstens als Anmerkung

  vor: "landsch., bes. österr". 3)

- Hitler war zwar ein Österreicher, zu dem gemacht, was er geworden ist, haben ihn aber

  die Deutschen. 4)

- Wenn die Deutschen einen Hügel bestei­gen, bewaffnen sie sich mit Kletterausrüstung.

- Politisch sind die Österreicher unbedeutend/friedlich, die Deutschen einflußsüchig

­  /gefährlich. Die Ösis (neue Lehnübersetzung zu Wessi/Ossi) sind nett, lieb, gemütlich,

  können gut jodeln und sind ein bißchen weinerlich.

- Essen und Trinken sind in Deutschland eine Katastrophe.

- Die Österreicher sind sehr naturverbunden, ein bißchen altmodisch.

- Die Deutschen haben schlechte Luft, sehen die Sonne recht selten und sind alles in allem   recht trister Natur.

- Wenn die Deutschen gemütlich werden, wirds gefähr­lich.

- Beim Heurigen findet der Österreicher erst zu sich selbst.

- Ski fahren könnens genausowenig wie Auto fahren, die Preißn.

- Mit den exakten Wissenschaften tun sie sich ein bißchen schwer, die Österreicher, ihr

  Talent liegt eher im Luftigen, in der Phantasie.

- Wenn Österreich zur EU kommt, kaufen uns die Deutschen auf. Aber sportlich sind wir

  ihnen überlegen.

- David und Goliath.

 

Diese Ansammlung müßte jetzt erst einmal belegt werden. Eine Arbeit, die ich mir hier erspare, statt dessen möchte ich nur ein paar Beispiele anführen. Unter dem Titel "Ein deutscher Sprachimperialismus" schrieb Johann Marte, ein hoher Beamter des österreichischen Wissenschaftsministeriums, 1992: "Österreichisches Denken und Philosophieren war nie eindimensional. Geschlossene Ideengebäude, radi­kale Standpunkte waren den Österreichern immer fremd. Daher konnte sich in Österreich z.B. der deutsche Idealismus eines Fichte, Schelling oder Hegel nie durchsetzen. Auch der kategorische Imperativ ist der öster­reichischen Wesensart fremd." 5) Und einem Artikel der Wiener     "Presse" aus demselben Jahr wurde die Überschrift gegeben: "Aus Marillen-Marmelade wird Aprikosen-Konfitüre. Österreich droht mit dem EWR eine 'Preußifizierung'". 6) So wird weiter­hin an dem selbstgebastel­ten Mythos in allen Bereichen weitergebastelt und das Ergebnis dann auch weltweit exportiert. Ein florierendes Geschäft, ein Konsumartikel, der sich fast reibungslos überall und je­derzeit vermarkten läßt, da er nichts in Frage stellt, niemanden berührt und eigentlich nur aus dieser seltsamen Mischung von larmoyanter "Weinkultur" und nicht verstandener Genialität besteht. Mozarts tragisches Ende und großartige Musik ver­schmolzen in einer Schokoladekugel. Deutschland hat in diesem Spiel die Rolle des wohlwollenden, großzügigen Onkels zu spielen, der höchstens belustigt, schlimmstenfalls ein bißchen hochnäsig, arrogant, niemals je­doch mahnend oder gar strafend zu agie­ren hat. Und Deutschland hat in der Nachkriegszeit diese Rolle bestens zu spielen gewußt: mit der Sicherheit des Mächtigen, der unbeschadet das mühevolle Treiben der Kleinen beobachten kann, weshalb er von Letzteren kaum sichtbar aber aus vollem Herzen gehaßt wird.

 

 

III. Burgtheater-Theater.

 

Im Jahr 1988 feierte das Burgtheater in Wien sein 100jähriges Jubiläum. Burgdirektor Claus Peymann setzte zu diesem Anlaß Thomas Berhards neues Stück "Heldenplatz" aufs Programm. Einen ganzen Monat lang vor der Uraufführung inszenierten die österreichi­schen Medien einen Riesenskandal 7), der hier insofern interessant ist, als daß neben dem Autor Bernhard auch Claus Peymann die ärgsten Beschimpfungen und Androhungen über sich ergehen lassen mußte. In be­zug auf Peymann tauchte immer wieder, versteckt oder ganz offen, das Argument auf, Peymann solle dorthin zurück, woher er gekommen sei, nach Bochum, nach Deutschland, und man lasse sich von einem Piefke nicht beschimp­fen. Der Text des Stücks war bis dahin, abgesehen von ein paar wenigen Zitaten, niemandem bekannt. In Österreich währte dieses Theater vor dem Theater genau bis zum Tag der Premiere. Alle füh­renden Politiker hatten sich zu Wort gemeldet, am wildesten schimpfte der FPÖ-Politiker Jörg Haider, der, auf Peymann bezogen, folgendes Karl Kraus-Zitat verwendete: "Hinaus mit dem Schuft aus Wien!" 8) Die bun­desdeutschen Medien beobachteten die Ereignisse sehr distanziert, fanden die Art und Weise der Auseinandersetzung typisch österreichisch: " (...) die Österreicher lassen sich kein Theater über das Theater entgehen, zumal dann nicht, wenn Masochismus und Schadenfreude kombinierte Wonnen verheißen." 9) Das was in Österreich u.a. auch als "Kulturkampf" gegen Deutschland geführt wurde, die ständige Angst vor der allzu engen Umarmung, wurde in Deutschland gar nicht wahrgenommen, was, auf rich­tig österreichisch interpretiert, natürlich nichts anderes ist, als preußische Arroganz.

 

 

IV. Wiedervereinigung.

 

Zur selben Zeit begannen in der DDR jene Ereignisse, die in kürzester Zeit halb Europa radikal verändern sollten. Die Umwandlung der Bundesrepublik wurde von Österreich kühl, fast teilnahmslos verfolgt, die von Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei hingegen bestätigten die in den 80er Jahren eingesetzte Renaissance einer Idee, von der man an­genommen hatte, daß sie längst begraben sei: den Begriff "Mitteleuropa". 10) Der Rückgriff auf eine vermeintlich gemeinsame "Seele" der ehemali­gen KuK-Regionen hat für die eigene Standortbestimmung neue Räume aufgetan, die Orientierung darin dauert bis heute noch an. Wichtig dabei ist, daß in "Mitteleuropa" für Deutschland kein Platz ist. Mit relativ großem Aufwand wurden in Osteuropa österreichische Lektoren, Bibliotheken, Kulturinstitute finan­ziert. Die derzeitige Kultur-Außenpolitik ist zum größten Teil als Konsolidierung des österreichischen Führungsanspruchs innerhalb "Mitteleuropas" zu verstehen. Der Begriff "Neutralität" vermit­telte bis in die jüngste Vergangenheit ein Gefühl des Nicht-Beteiligtseins, des Beobachters, des Vermittlers. Dieser Begriff, den man wohl als einen der wichtigsten Faktoren für die Herausbildung eines neuen "Österreich-Bewußtseins" nach dem Staatsvertrag von 1955 bezeichnen kann, ist, völkerrechtlich und realpolitisch gesehen, eine reine Fiktion. 11) Dadurch wurde es aber möglich, daß man sich in Wien gerne dem Gefühl hinzuge­ben trachtete, als Vermittler, als Drehscheibe, als Zentrum der schwieri­gen Beziehungen zwischen Ost und West zu fungieren. Und in diesem Punkt war man den "Piefkes" natürlich beidseitig überlegen. Weil: Wer er­möglichte denn eigentlich erst die große Wiedervereinigungsparty, welche Wege nahmen denn Zehntausende von Ossis, die in den Westen wollten? Ungarn, Österreich, das waren doch wohl die Vorreiter der friedlichen Revolution. Das erste freie Land für den ostdeutschen Flüchtlingsstrom war das Burgenland. Wien als Drehscheibe von Großmächte-Politik, Spionagehauptstadt, eines der wichtigsten UN-Zentren. Und selbst mußte man sich nur "neutral" verhalten. Deutschland hatte in diesem Spiel kein guten Karten. Die Freude an dem konstanten Scheitern deutscher Bemühungen, nicht nur wirtschaftlich, sondern endlich wieder auch poli­tisch, sprich militärisch als Großmacht anerkannt zu werden, ist in Österreich noch immer groß. Von Peinlichkeiten wie den Somalia-Einsatz der deutschen Bundeswehr oder dem doch sehr un­beholfenen Agieren deutscher Politiker im Jugoslawienkonflikt läßt sich einiges an Schadenfreude abgewinnen: auf diesem Spielfeld wähnt man sich um vieles besser, erfahrener. Österreichische Soldaten stehen schon seit den 60er Jahren auf allen Konfliktherden der Welt als UN-Blauhelme im Einsatz.

 

 

V. Transitprobleme auf dem Weg in die EU.

 

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Österreich noch in diesem Jahr den EU-Beitritt per Volksabstimmung beschließen. Die diesbezüglichen politi­schen und diplomatischen Verhandlungen mit den zuständigen EU-Gremien wurden bereits im März erfolgreich abgeschlossen. Ein Nicht-Beitritt würde vor allem wirtschaftlich eher katastrophale Auswirkungen haben. Um drei wesentliche Punkte kreist die Diskussion um Für und Wider die EU noch immer: das Transitproblem, Zweitwohnsitze für EU-Bürger und Subventionspolitik der Agrarproduktion. Vor allem am Transitproblem scheiden sich die Geister. Auf dem etwas mehr als 100 km langen Autobahnstück zwischen Kufstein (Grenze zu Bayern) und dem Brennerpaß (Grenze zu Italien) verkehren täglich Tausende von LKWs, durch die be­sondere geographische Lage sind Schadstoff- und Lärmemission seit dem Beginn der 80er Jahre für viele Anrainer zu einer täglichen Belastung geworden. Dieses im Grunde nur Tirol betreffende Verkehrsproblem ist zu einem Identifikationspunkt für viele Österreicher geworden, die ihr Konzept von Neutralität dahingehend verstanden wissen wollen, daß man noch immer selbst bestim­men kann, wer wie oft und wann die Autobahnen im eige­nen Land benut­zen kann. Eine relativ breite Ablehnung der "Bürokraten in Brüssel" dient dazu, die eigene "David-Position" erneut zu konsolidieren und auf das Recht der Kleinen zu pochen. "Die in Brüssel" das sind ver­ständlicherweise "die in Bonn", die Germanen, die tagtäglich Österreichs Straßen benutzen, um ihre Geschäfte mit Südeuropa abzuwickeln. Durch ein Transitabkommen mit er EU und durch bilaterale Verträge mit Deutschland und Italien ist der LKW-Verkehr zwar geregelt, doch hält sich in der Öffentlichkeit hartnäckig die Meinung, daß man von den Großen, sprich Deutschen, doch nur ständig unter Druck gesetzt und ausgetrickst wird. Zum Thema Zweitwohnsitze: Deutsche Urlauber kaufen sich Ferienwohnungen in Österreich. Als neutrales Land konnte man selbst bestimmen, unter welchen Bedingungen solche Käufe getätigt werden konnten. Mit der EU werden die Piefkes hemmungslos die schönsten Landschaften aufkaufen, einer schleichenden Germanisierung Österreichs wird man keinen Einhalt bieten können. Eine solche Angst resultiert vor allem aus den Erfahrungen mit dem Massentourismus aus der BRD bald nach Beginn des dortigen wirtschaftli­chen Aufschwungs. Der Gast ist König, besser: er benimmt sich so. Und weil man sein Geld braucht, spielt man dieses Spiel mit, wünscht ihn aber täglich zum Teufel. Der "Fremde" ist in der Regel, wenn alleine, wenn ohne Sprache des Gastlandes, eher zurückhaltend, vorsichtig. Die deutschen Urlauber in Österreich erscheinen inzwischen in wahren Kolonnen, setzten die Sprache oftmals noch als Überlegenheitssymbol ein (und von Wittgenstein wollen sie nichts wissen). Was Komisch-Groteskes am Rande: Vor ein paar Jahren startete die österreichische Tourismusbranche eine Werbekampagne mit dem Slogan: "Sag 'Servus' zu Österreich". Niemand schien sich dabei etwas gedacht zu haben. Zielpublikum dieser Aktion wa­ren natürlich vor allem Urlaubssüchtige aus der Bundesrepublik. Übersetzt man nun aber "Servus" aus dem Lateinischen, so ergibt sich eine seltsame Aufforderung an den Gast, sich schonungslos und nach Herzenslust der eilfertigen Sklaven zu bedienen. Sicher war das weder beabsichtigt, noch wohl auch so verstanden worden, aber: Freud läßt grüßen. Der EU-Beitritt wird aller Voraussicht nach ein nostalgisches Sehnen nach der verloren­gegangenen Neutralität bewirken, obwohl diese nicht einmal auf dem Papier jemals irgendeine Verbindlichkeit beinhaltete.

 

 

VI. Seelenbeschreibung.

 

"Deshalb ist die österreichische Identität ein beson­deres europäisches Problem: Denn diese Identität läßt, genaugenom­men, keine Alternative zu - entweder es gibt eine spezifische, nationale österreichische Qualität; oder Österreich ist deutsche Peripherie." 12) Deutschland ist wahr­scheinlich für die nächsten paar Jahrzehnte ver­sorgt mit eigenen Problemen und Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Definition, in Österreich arbeitet man noch immer, oft ungern, an den Ereignissen der "Ostmark"-Periode, umfassende Darstellungen zur jün­geren Zeitgeschichte fehlen. Einzig die mehrteilige Fernsehproduktion "Österreich II" 13) kann man bisher als gründlich recherchierte, aber doch aus einem sehr   konservativen Blickwinkel erstellte Arbeit zum Thema bezeichnen. Andrerseits sind aber   die unzähligen Publikationen zur "Seele" der Österreicher auffallend. Während man sich in Deutschland von neuem mit dem ganzen Komplex von Staat vs. Volk vs. Nation kon­frontiert sieht, man also dringend neue Richtlinien für ein Gesellschaftsmodell zu suchen bemüht ist, das einerseits der Wiedervereinigung entspricht und andrerseits den Anforderungen eines modernen Staates mit ca. 10% der Bevölkerung, die keinen bundesdeut­schen Paß hat, sucht man in Österreich noch immer mit geduldiger Liebe die eigenen Leiden und Sehnsüchte zu beschreiben. Erwin Ringel etwa schreibt in seinem Buch "Die österreichische Seele": "Dieses Land ist eine Brutstätte der Neurose" 14), Friedrich Heer in "Der Kampf um die österrei­chische Identität": "Es gibt kein geschichtliches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit den Identitätsproblemen seiner Mitglieder ver­bunden ist wie   Österreich" 15) und in Robert Menasses Essay "Das Land ohne Eigenschaften" steht zu lesen: "Kein Land der Welt hat sich selbst öffentlich so wenig problematisiert und grundsätzlich reflektiert, wie die Zweite österreichische Republik". 16) Dies alles sind Postulate, ungeprüft, nicht hinterfragt und ähneln in ihrer Konstruktion stark dem bundesdeut­schen Alleinanspruch auf den Besitz der grausamsten und un­menschlich­sten historischen Entwicklung in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Wehe, jemand wagt die Behauptung, daß es in der Weltgeschichte und -geographie nicht gerade an Grausligkeiten aller Art fehle, und die Frage nach der ärgsten aller Diktaturen eher eine Frage für ein dummes TV-Quiz denn für eine ernsthafte Auseinandersetzung sei. Der aufrichtige Deutsche springt dir an die Gurgel. Und wehe, jemand wagt es, danach zu fragen, ob denn die Seelen nun auch schon nationale Eigenschaften hätten und wenn ja, wodurch sich eine richtige Ösi-Seele von einer Wessi-Seele, einer Ossi-Seele unterscheide, der Fluch der ganzen Nation würde   dich treffen, mit dem dazugehörigen Segen der Kirche.

 

 

VII. Meinung. Und Gegenmeinung?

 

Die Medienkonzentration in Österreich ist größer als in Italien, wo Silvio Berlusconi sein Informationsimperium kürzlich auch politisch zu nutzen wußte. Zwei Privatpersonen, Kurt Falk und Hans Dichand, kontrollieren fast den gesamten Zeitungsmarkt. "Neue Kronen"Zeitung und "Kurier" sind die beiden mit Abstand auflagenstärk­sten Tagesblätter. Dichand und seine "Krone" werden oft als Wegbereiter des österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider bezeichnet, der ohne diese Hilfe wohl kaum seine inzwischen aus dem internationalen Freiheitlichen Parteienverband aus­geschlossene FPÖ innerhalb von ein paar Jahren von 5% auf über 20% hätte bringen können. Im Gegensatz zu Deutschland fehlt in Österreich fast jegliche Rivalität, Konfrontation, damit auch Opposition und Meinungsvielfalt im Medienbereich. Rundfunk und Fernsehen sind von den beiden Großparteien SPÖ und ÖVP kontrolliert, auch dort ist kaum Raum für Auseinandersetzungen. "Krone" und "Kurier" sind eindeutige Boulevardblätter, es wird weniger auf Information als auf Sensation Wert gelegt. Und was ist eine echte Sensation? Wenn z.B. ein österreichi­scher Fußballclub einen deutschen besiegt. So geschehen im diesjährigen Europa-Cup der Pokalsieger, als die Salzburger Austria Eintracht Frankfurt und dann den SC Karlsruhe aus dem Rennen warf. Daraufhin widmete das als linksliberal einzustu­fende Wochenmagazin "profil" gleich die Titelseite und -story dem Thema. "Haut die Piefkes. Die unbewältigte Haßliebe zu den Deutschen" stand am Cover und als Überschrift im Inneren war zu lesen: "'Wer Preußenfleisch mag...' Königgrätz 1866, Cordoba 1978, Frankfurt, Graz und Karlsruhe 1994: Warum die Österreicher die Deutschen mit grenzenlosem Ehrgeiz verfolgen" (in Cordoba hat Österreich bei der Fußballweltmeisterschaft die Deutschen mit 3:2 besiegt, Frankfurt, Graz und Karlsruhe sind diesjährige Austragungsorte deutschösterreichischer Sportereignisse). 17) Das "profil" ist nun auf keinen Fall eine Zeitschrift, die sich dem Chauvinismus                verpflichtet hätte, im Gegenteil. Der Artikel wollte durchaus kritisch sein, geriet dann aber doch zum dem, was er eigentlich nicht sein wollte: zur Beschreibung der österreichischen Seele. Ein Sieg über Deutschland ist im österreichischen Fußball so etwas wie ein Orgasmus der Superlative, Schöneres ist nicht mehr vorstellbar, und für die Boulevardpresse das beste Geschäft. Der Sport bietet Ersatz für Mängel im Selbstbewußtsein, das "Wir-Gefühl" entschädigt für vieles, was ansonsten nicht zu bekom­men ist. Auch dies ist verständlicherweise nichts Österreich-Typisches, in den Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich ist aber doch auf­fallend, welche Emotionen frei werden, wenn die "Preißn" einmal verlieren. Die Medien sind dann österreichweit gleichgeschaltet, die wenigen Kritiker oder Warner vor allzu großen Freudensprüngen geraten schnell zu Verrätern.

 

 

VIII. Unterschiedliche Gemeinsamkeiten.

 

Am Beispiel von Kurt Waldheim läßt sich relativ leicht aufzeigen, wie sehr sich oft Sachverhalte, die beim ersten Hinsehen völlig unterschiedlich er­scheinen, doch glei­chen. Als die Österreicher aller politischen Vernunft zum Trotz und ge­stärkt durch den Slogan "Jetzt erst recht" aller Welt zei­gen wollten, daß sie wählen können, wen sie wollen, und daß das Ausland da überhaupt nichts zu sagen hat, als dann der einsame Präsident sie­ben lange Jahre in seiner Hofburg residierte und von fast allen Staaten geächtet war, da freute sich der deutsche Urlauber, weil er wußte, daß so etwas bei ihm nicht möglich wäre. Schließlich hat man ja die Vergangenheit bewältigt, in Österreich hingegen wird alles verdrängt. Deutschland vs. Österreich = Vergangenheitsbewältigung vs. Vergangenheitsverdrängung. Unter "be­wältigen" steht im Duden: "mit et­was Schwierigem fertig werden; etw. meistern", unter "verdrängen": "2.(Psych.) etw.in irgendeiner Weise Bedrängendes unbewußt aus dem Bewußtsein verbannen, einen Bewußtseinsinhalt, den man nicht verarbei­ten kann, unterdrücken". Vergangenheitsbewältigung bedeutet demnach, daß die Arbeit geleistet worden ist, daß man alles unter Kontrolle und zu einem befriedigenden Ergebnis gebracht hat. Die deutsche Vergangenheit kann also mit rei­nem Gewissen ad acta gelegt werden, man braucht sie nicht mehr, in Österreich ist sie beiseite gelegt worden, man will sie nicht mehr. Auseinandersetzung mit Vergangenheit findet in keinem der Fälle statt, womit ein wundersames Beispiel gemeinsa­mer Grundstrukturen gefun­den wurde. Waldheim war, wenn auch ein ne­gatives, so doch ein wichti­ges Identifikationssymbol österreichischen Bewußtseins. Die internatio­nale Ächtung stärkte eher als daß sie verunsi­cherte. Die Deutschen hatten die Nürnberger-Prozesse, die Österreicher Waldheim. Kapitel konnten ge­schlossen werden. Und mit Waldheim hatten die Österreicher die Vergangenheit in bester deutscher Interpretation "bewältigt".

 

 

IX. Ausblicke.

 

Das neue gemeinsame Europa wird seine Auswirkungen auch auf die Beziehung zwischen Österreich und Deutschland haben. Allerdings erst dann, wenn sich konkreter abzeichnet, was unter diesem Begriff ver­standen werden soll. Derzeit ist außer einer wirtschaftlichen Gemeinschaft nichts anderes vorstellbar. Und die wirtschaftlichen Verflechtungen sind ja zwischen beiden Ländern schon lange mehr als nur eng. Also braucht man auch weiterhin sein Verhalten nicht grundlegend verändern. Das Goliath und David-Spiel könnte demnach auch die nächsten Jahrzehnte bestimmen. Es sei denn, die EU würde mehr fordern, mehr anbieten, neue Wege öffnen. Die österreichischen Bundesländer sind derzeit auf hartem Kurs gegenüber dem autoritären Zentralismus in Wien, neue, überstaatliche Verbände wie z.B. die ARGE- ALP (Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer, in der Bundesländer/Regionen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Italien und Slowenien vertreten sind) könnten durchaus jene Tendenzen bestärken, die der derzeitigen EU ein europäisches föderalisti­sches Regionenkonglomerat entgegensetzen möchten. Dann aber müßten wohl auch in Westeuropa tiefgreifende Veränderungen einsetzen, bei denen auch die eine oder andere Grenzlinie neu zu ziehen wäre. Von sol­chen Spekulationen einmal abgesehen wird sich aber kaum etwas grund­sätzlich Neues ergeben. Die Münchner Abendzeitung schrieb nach dem Sieg von Salzburg über Frankfurt zu der in Österreich ausgebrochenen Jubelstimmung etwas ironisch: "Noch ein Sieg über Deutschland und Österreich ist endgültig eine Nation". 18) Ein solcher Satz drückt bestens aus, was es an Ressentiments, Spötteleien, neidvollen Seitenblicken und stumpfsinnigen Sicherheiten in dieser eher lieblosen aber doch engen Beziehung so alles gibt. Wenn man in Zukunft eine "europäische Identität" zu schaffen imstande ist, wird wohl ein unbelasteterer Umgang miteinan­der möglich sein. Bis dahin aber gilt wahrscheinlich doch noch das be­kannte Karl Kraus-Zitat: "Nichts unterscheidet die Österreicher und die Deutschen so sehr wie die gemeinsame Sprache". 19)

 

In: Nippon-doitsu gakkai. Japanische Gesellschaft für Deutschstudien. Nr. 18. Tokyo 1994. S. 34-45.

 

Anmerkungen

 

1) Hugo von Hofmannsthal: "Wir Österreicher und Deutschland." Gesam-   melte Werke in Einzelausgaben. Prosa III. Frankfurt/M., S. Fischer, 1952. S. 225.

2) Siehe dazu die Schlagwörter "Piefke" und "Preuße" in: "Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache" von Hans Küpper.   Stuttgart, Klett, 1984.

3) Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim/Wien/Zürich, Duden-   verlag, 1989.

4) Vgl. dazu z.B. Joseph Roth: " Bei uns konnte Hitler nichts werden     bei uns war er ein kleiner Strolch. Bei euch ist er groß   geworden." Zit. n. Friedrich Heer: "Der Kampf um die österreichische Identität." Wien/Köln/Graz, Hermann Böhlaus Nachf., 1981. S.   440.

5) Jörg Marte: "Ein deutscher Sprachimperialismus? Meist ist alles   nur 'gut gemeint'". "Salzburger Nachrichten" 02.09.1992.

6) Siehe dazu "Die Presse" 27.08.1992.

7) Siehe dazu "Heldenplatz. Eine Dokumentation." Hrsg. vom Burgtheater Wien, 1989.

8) Ebda. S. 44 ff.

9) Ebda. S 122.

10) Diese Hinwendung zum ehemali­gen "gemeinsamen" Erbe ist in der   österreichischen Öffentlichkeit spätestens Ende der 70er Jahre zu   bemer­ken und derzeit noch voll im Gang. Es gibt "Mitteleuropa"   Kongresse, "Mitteleuropa"-Publikationen (siehe dazu z.B. Erhard Busek: "Besinnung auf Mitteleuropa." Europäische Rundschau 2/1985)   usw.

11) Vgl. dazu Heribert Franz Köck: "Österreichs 'immerwährende'   Neutralität: Ein Mythos geht zu Ende." Journal für Rechtspolitik,   Jahrgang 1, Heft 4, 1993. S. 210239.

12) Anton Pelinka: "Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa." Wien, Ueberreuter, 1990. S.   10.

13) Hugo Portisch: "Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates."   Wien, Kremayr & Scheriau, 1985. und derselbe: "Österreich II. Der   lange Weg zur Freiheit." Wien, Kremayr & Scheriau, 1986.

14) Erwin Ringel: "Die öster­reichische Seele. 10 Reden über Medizin,   Politik, Kunst und Religion." Wien/Zürich, Europaverlag, 1991. S.   9.

15) Friedrich Heer: "Der Kampf um die österreichische Identität."   Wien/Köln/Graz, Hermann Böhlaus Nachf., 1981. S. 9.

16) Robert Menasse: "Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichi­schen Identität. Wien, Sonderzahl, 1992. S. 12.

17) "profil. Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs." Nr. 12.   21.03.1994.

18) Münchner AZ = "AbendZeitung". 29.03.1994.

19) Zitiert nach Rudolf Muhr (Hrsg.): "Internationale Arbeiten zum   österreichischen Deutsch und sei­nen nachbarsprachlichen Bezügen."   Wien, Hölder/Pichler/Tempsky, 1993. S. 26.