Mehrsprachigkeit in deutschsprachigen Ländern.

 

 

Seit am 1. Januar 2002 der Euro in den meisten EU-Ländern als Zahlungsmittel eingeführt worden ist, scheint es auf der finanziellen Kommunikationsebene keine Verständigungsprobleme mehr zu geben. Wie sieht das aber mit den verschiedenen Sprachen aus?

Es gibt keine in allen EU-Ländern gültige Sprache. Im Gegenteil. Selbst ein Land wie Österreich, das eigentlich bisher immer als deutschsprachiges Land bezeichnet wurde, hat versucht und auch durchgesetzt, dass seit kurzem auch offiziell vom „Österreichischen Deutsch“ gesprochen wird. Wenn aber jedes Land vor allem darum bemüht ist, die eigene Sprache gegenüber den anderen in eine günstige Position zu bringen, wie steht es dann um die -in unserer westlichen, globalisierten Welt so viel und oft gepriesene- Mehrsprachigkeit?

Vielleicht ist es besser und einfacher, den Begriff „Mehrsprachigkeit“ zuerst einzugrenzen, bzw. zu definieren. Was ist das, wenn wir heute von „mehrsprachigen“ Ländern, „mehrsprachigen“ Personen oder “mehrsprachigen“ Situationen sprechen? Meinen wir damit immer dasselbe? Ist ein mehrsprachiges Land eines, in dem alle Menschen mehrere Sprachen können oder eines, in dem mehrere Sprachen gesprochen werden, weil dort verschiedene Sprachgruppen wohnen und leben? Ist die Schweiz „mehrsprachig“, weil dort drei Sprachgruppen (eine deutschsprachige, eine französischsprachige und eine italienischsprachige) relativ streng voneinander getrennt leben, oder weil es in der Schweiz auch noch die rätoromanische Sprachgruppe gibt, die, weil sie nicht in einem so klar isolierten Gebiet wohnt, notgedrungen eine oder zwei andere Sprachen dazulernen muss?

Neben der herkömmlichen Definition von Sprache kennen wir aber auch die „Sprache des Films“, jene der „Medien“ und auch die „Sprache des Herzens“. Sind wir dann also schon durch unsere Existenz alleine sozusagen „mehrsprachig“ ohne dass uns dies bewusst ist?

Und weiters: Ist „Mehrsprachigkeit“ ein Luxus, z.B. eine Art Hobby für Kinder von reichen Eltern, oder ist es eine Notwendigkeit für Kinder armer Eltern, die sich ihren Aufstieg in der Gesellschaft auch durch „Mehrsprachigkeit“ erhoffen?

Die Antwort auf all diese Fragen ist natürlich normalerweise ganz einfach: „Mehrsprachigkeit“ bedeutet, dass jemand neben seiner Muttersprache noch eine oder mehrere Sprachen beherrscht.

Und in dieser Hinsicht ergibt sich für die deutschsprachigen Länder ein sehr unterschiedliches Bild, das geprägt ist von historischen Entwicklungen und Anforderungen der Gegenwart. Die Idee eines „deutschen Nationalstaates“ hat im letzten Jahrhundert alle denkbaren und undenkbaren Entwicklungen erlebt und ließ sich nicht besonders leicht mit dem verbinden, was man heute als „multikulturell“, oder etwas altmodischer formuliert, als „ein nach außen offenes“ Land bezeichnet. Solange Deutschland ein „Auswandererland“ war, gab es diesbezüglich wenig Änderungen. Erst mit der großen Einwanderungswelle nach dem 2. Weltkrieg (hauptsächlich aus Italien, der Türkei, Jugoslawien, Griechenland und Spanien) kam Bewegung in die Sprachenpolitik. Plötzlich waren Menschen im Land, die kaum oder meist nur schlecht Deutsch sprechen konnten. Die „Gastarbeiter“ haben das heutige „multikulturelle“ Deutschland tief geprägt und die Richtlinien für die Zukunft vorgegeben. Die Deutschen selbst können heute zwar kaum besser Italienisch, Türkisch, Serbisch, Griechisch oder Spanisch als vor 50 Jahren, die Kinder der „Gastarbeiter“ jedoch sprechen inzwischen normalerweise problemlos Deutsch und dazu noch ihre Muttersprache. In diesem Sinne ist Deutschland in der Tat ein „mehrsprachiges“ Land geworden. Die traditionellen Fremdsprachen der Deutschen, also Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch werden (was auch die im letzten Jahr für Deutschland so deprimierende PISA-Studie zeigt) nicht besonders effektiv gefördert. Hier scheint noch viel Arbeit bei der Vermittlung von Fremdsprachen nötig zu sein.

Anders als Deutschland scheint der Begriff „Österreich“ auch heute noch oft mit die alten Habsburger Doppelmonarchie verbunden zu werden, die ja noch immer bzw. schon wieder als das gelungenste Beispiel einer multikulturellen Gesellschaft im alten Europa gilt. Allein ein Blick in das wiener Telefonbuch genügt um zu erkennen, dass hier ungarische, tschechische, slowakische und kroatische Familiennamen völlig gleichberechtigt neben deutschen stehen. Doch in Bezug auf „Mehrsprachigkeit“ ist auch dieser Sachverhalt eher täuschend denn aufklärend: Wien ist eine rein deutschsprachige Stadt (bzw. österreichisches Deutsch sprechende, so wie dies neuerdings bezeichnet wird). Die ethnischen Minderheiten (hauptsächlich Slowenen, Kroaten, Sinti und Roma) haben wenige Rechte und werden auch unzureichend gefördert. Für den Fremdsprachenunterricht an den Schulen ergibt sich ein ähnliches Bild wie in Deutschland.

Die Schweiz ist also das einzige der deutschsprachigen Länder, das man als „mehrsprachig“ bezeichnen kann. Viele, aber natürlich noch lange nicht alle Schweizer, sprechen neben ihrer Muttersprache auch noch eine andere Landessprache. Aber die Schweiz als ein „deutschsprachiges“ Land zu bezeichnen ist eigentlich schon wieder falsch: man muss nur mal einen französisch- oder italienischsprechenden Schweizer befragen...

„Mehrsprachigkeit in deutschsprachigen Ländern“; was sich so einfach anhört, hat sich also als recht komplex und kompliziert erwiesen. Vielleicht könnte man so zu einem Schluss kommen:

Wir Menschen sind von Geburt aus „mehrsprachig“ konditioniert (ein Baby lernt ziemlich schnell, dass z.B. der Vater „anders“ spricht als die Mutter und versteht trotzdem beide). „Mehrsprachigkeit“ ist also ein sehr weiter Bergriff, den wir immer wieder neu bestimmen müssen, indem wir miteinander sprechen. Und genau in diesem Augenblick, in dem wir dies tun, sind wir ja selbst schon wieder „mehr-sprachig“ = sprechen wir mit mehreren, mit anderen. 

 

In: Prismen. Deutsche Abteilung, Universität Tokyo, Komaba, 2002. S. 146-151