IDV-Regionaltagung Asien, Beijing 7.-14./07/94

Peter Giacomuzzi, Universität Tokyo, Sektion 1

 

 

Der Faktor "Distanz" im Fremdsprachenunterricht

 

Das Fach "Interkulturelle Germanistik" hat seit seinem nunmehr zehnjähri­gen Bestehen eine ganz erstaunliche Reihe von Erfolgen aufzuweisen. Bisheriger Höhepunkt: der letzte Kongreß des IVG in Tokyo, dessen Tagungsthema direkt einem vom "Begründer" der Interkulturellen Germanistik, Alois Wierlacher, im Jahr 1985 herausgegebenen Sammelband entliehen wurde (1).

Im Folgenden einige kurze kritische Anmerkungen zum Konzept der Interkulturellen Germanistik, die z.T. bereits formuliert wurden, aber mei­nes Wissens nicht aus der hier formulierten Perspektive (2).

Wenn neue Begriffe auftauchen wartet z.B. die Redaktion des Duden an die zehn Jahre, um sich zu vergewissern, daß es sich nicht bloß um ein kurz­lebiges Modewort han­delt, bevor ein neuer Terminus aufgenommen wird. Nach diesem Kriterium hat die Interkulturelle Germanistik alle Voraussetzungen für eine Aufnahme in den allge­meinen Wortschatz erfüllt. Da es sich hierbei jedoch um einen wissenschaftlichen Terminus handelt, sollten wir uns auch mit seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen et­was näher be­schäftigen.

"Interkulturell" ist wohl zu verstehen als "zwischen den Kulturen" und soll wahr­scheinlich als Antipol zu "intra-", vielleicht aber auch zu "monokul­turell" gelesen werden. Und bereits hier beginnen die ersten Schwierigkeiten. Was ist unter einer "intra-" oder "monokulturellen Germanistik" zu verstehen? Diese Begriffe existieren nicht. Wierlacher hat dieses Dilemma einfach gelöst, in­dem er von einer "muttersprachliche Germanistik", "Inlandsgermanistik" oder "Innerdeutschen Wissenschaft" spricht. Wenn sich ein chinesischer Literaturwissenschaftler mit deut­scher Literatur beschäftigt, ist er dann nicht ganz automatisch "interkul­turell"? Ja, ist es ihm für einen einzigen Augenblick möglich, "nicht-inter­kulturell" zu sein? "Interkulturell" ist nur für muttersprachliche Germanisten ein einigerma­ßen brauchbarer Begriff, aber auch nur für jene, die glauben, daß ihre Muttersprache al­leine ein Garant für die eigene Qualität darstelle, oder noch schlimmer, für fachli­che Überlegenheit ge­genüber den "Fremden", den "sprachlichen Exoten", also allem, was als "nicht-deutsch" bezeichnet wird . Und selbst in einem solchen Falle stellt sich so­fort die Frage: Was heißt denn "Inlandsgermanistik", was "Innerdeutsche Wissenschaft". Sind dann die Schweizer Germanistik oder die österreichische zur "Auslandsgermanistik" zu zählen?

Das Begriffspaar "das Eigene" vs. "das Fremde" suggeriert, daß die deutsch­sprachige Literatur, um die es hier ja geht, ein Teil, ein "Eigenes" des deutsch­sprachigen Germanisten sei, ein ihm "Innewohnendes", das er gar nicht ablegen kann, weil es ein Teil von ihm selbst ist, während der "Ausländer", der "Fremdkulturelle", der "Nicht-Deutsche" Germanist diesen Zustand per defini­tionem niemals erreichen könne. Diese etwas waghalsige Konstruktion ist des­halb möglich, weil man einem ganz banalen Fehler un­terlegen ist oder unterlegen sein will: Aus einem zu betrachtenden Objekt, der deutschprachigen Literatur, wird ein Attribut des einen Subjekts (des mutter­sprachlichen Germanisten), wodurch dieses sich von einem zweiten Subjekt (dem nicht-muttersprachlichen Germanisten) grund­sätzlich unter­scheidet.

Sind mir die Neonazis etwas "Eigenes" oder etwas "Fremdes"? Ist die der­zei­tig fast weltweit reaktivierte Xenophobie "mono-, inter- oder multikul­turell" zu interpretie­ren? Bietet Mc Donalds ein "interkulturelles" Essen an?

Eine solche Fragenliste ließe sich beliebig fortsetzen. Im Zusammenhang mit Literaturwissenschaft möchte ich nur noch anführen, daß Begriffe wie "Interkulturelle Sinologie", "Interkulturelle Afrikanistik" aber auch "Interkulturelle Romanistik" oder "Interkulturelle Anglistik" bis heute kei­nen Gebrauch gefunden ha­ben. Bleibt die Frage, ob Wissenschaftler, die sich mit diesen Gegenständen ausein­andersetzen, keine interkulturelle Arbeit leisten.

Das Kernproblem scheint mir, wie bereits erwähnt, in einer falschen Beschreibung des Untersuchungsgegenstands zu liegen. "Kultur" kann nur als Produkt einer Interaktion, oder um es einfacher auszudrücken, als Produkt ei­ner Beziehung zwi­schen zwei oder mehreren Menschen entstehen. Selbst die Kultur des Einsiedlers entsteht aus einer, vielleicht könnte man sagen "negati­ven", "sich verweigernden" Beziehung eines Subjekts mit sei­ner Umwelt. Ein völlig beziehungsloses Individuum ist nicht denkbar. Deshalb ist jede Form von Kultur eine interkulturelle. Kultur ist nur als "Interkultur" definierbar. Der Begriff "Interkulturelle Germanistik" ist dem­nach nichts anderes als eine Tautologie (3).

Ist dann der gesamte Bereich der "Interkulturellen Germanistik" eine zu ver­gessende Fehlentwicklung der Literaturwissenschaft? Dem wider­spricht die Tatsache, daß das Interesse daran eher noch im Zunehmen ist, daß das Fach also doch für viele Wissenschaftler interessant, reizvoll wirkt. Und es ist nicht zu leugnen, daß das Auflehnen gegen einen sehr ab­geschlossenen, eher ver­steinert wirken­den Wissenschaftbetrieb, wie er sich oft­mals dargestellt hat und z.T. noch immer darstellt, Reaktionen und Aktivitäten provo­zierte, von denen wir heute alle profitieren. Das Problem ist: Brauchen wir für eine Revitalisierung der Germanistik ein neues Fach? Ich glaube, daß mit dem al­ten Korsett noch gut gearbeitet werden kann, daß die Aufspaltung der Literaturwissenschaft in eine "Interkulturelle" und in eine "Muttersprachliche Germanistik" unselige Folgen haben würde. Man hätte dann wie­der ein Zwei-Schichten-System, das systembedingt immer nur konfrontierend, nie­mals kooperierend arbeiten könnte. Ähnliches gilt ja auch für des Fach "Deutsch als Fremdsprache", das ja bereits eine solche Spaltung im Studienabschluß durchführt. Was macht ein DaF-Abgänger, der keine Stelle an einer Sprachschule, Universität oder in einer Klasse mit ausländischen Schülern fin­det? DaF muß ein integrativer Bestandteil des Germanistikstudiums werden, kein abgekapselter Studienzweig für die paar wenigen Lektoren oder Kulturinstitutsanwärter.

Mir scheint, daß eine genauere methodische Beschreibung des Untersu­chungsgegenstands, des Verhältnisses zwischen Untersuchungsgegenstand und untersuchendem Subjekt und letztlich der Versuch einer etwas spezifi­scheren Eigendefinition ausreichen würden, um der Germanistik für die nächste Zukunft ge­nügend neue Impulse zu liefern.

Der Faktor "Distanz" kann hierbei eine relativ einfache, d.h. auch in die Praxis um­setzbare Hilfe bei einem solchen Unterfangen anbieten. Wenn wir davon ausgehen, daß Literatur niemandem etwas "Eigenes", niemandem et­was "Fremdes" sein kann, sondern daß Literatur ein Objekt ist, zu dem je­der eine z.T. gesteuerte (durch Schule, durch Bildungssysteme, durch Marktmechanismen), z.T. sehr individuelle Position einnimmt (die Freiheit des Lesers, Inhalt und Form seiner Tätigkeit weitgehend selbst bestimmen zu können, macht das Lesen, trotz aller Unkenrufe, noch immer zu einem fas­zinierenden Erlebnis), wenn wir also akzeptieren, daß auch für die Literaturwissenschaft und somit auch für den Literaturwissenschaftler sein ei­genes Leseinteresse an den Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen gestellt werden muß, dann brauchen wir uns nicht mehr mit den inzwischen doch schon etwas mühseligen Fragen beschäftigen, ob denn ein koreanischer Germanist den Text nun wirklich ganz gleich verstehen könne (und das heißt weiterhin, wenn inzwischen auch unausgesprochen, "richtig", "angemessen" oder "wahr"), ob die amerikanische Germanistik eigentlich zur europäischen zu zählen sei, ob das in mir "Fremde" des Anderen sein "Eigen" sei usw. Wenn wir uns der Mühe unterziehen, den eige­nen Standort zu definieren und seine Distanz (Nähe/Ferne/Abstand) zum Gegenstand, zum literarischen Werk, dann wer­den eine ganze Menge von kulturellen (interkulturellen) Mißverständnissen kaum noch möglich sein.

Stellen wir uns die Literatur als eine Kugel vor, um die herum sich die ver­schie­denen Wissenschaftler in verschiedenen Abständen aufstellen. Stellen wir uns wei­terhin vor, daß wir für unsere Betrachtungen Werkzeug benöti­gen und lassen wir die­ses Werkzeug z.B. einen Fotoapparat sein. Jeder Wissenschaftler hat zu dem Gegenstand eine andere Distanz, die einen nä­her, die anderen ferner. Legt man von all diesen verschiedenen Punkten zwei Tangenten an die Kugel in der Mitte, die die Literatur dar­stellt, so wird bald ersichtlich, daß jeder Punkt, der uns Germanisten darstellt, ein anderes Stück, ein anderes Segment einschließt. Die Linsen, die wir unse­rem Fotoapparat aufsetzen, werden ebenfalls un­terschiedliche sein und unterschiedlich eingestellt werden müssen, je nach dem was wir aus unse­ren Segment fokusieren wollen, ob wir schwarz/weiß oder in Farbe foto­grafieren wollen usw. In diesem Modell, das zugegeben äußerst einfach ist, haben Begriffe wie das "Eigene" oder das "Fremde" keinen Raum. Es kann hier nur der eigene Standort be­schrie­ben werden, was dazu dient, dem an­deren die Voraussetzungen für das ei­gene Foto verständlich zu machen. "Nähe" und "Ferne" oder einfach bloß "Distanz" sind de­skriptive Werkzeuge. Wer zu nahe am Gegenstand ist, braucht eine Brille, wer zu weit entfernt ist, ein Fernrohr. Eine ideale Distanz gibt es für den Wissenschaftler nicht. Sie kann nur von jenen ein­genommen werden, die selbst den Gegenstand, den wir beobachten, produ­zieren: An der idealen Distanz arbeiten die Schriftsteller.

Es war an der Zeit, mit solch schrägen Differenzierungskriterien wie Inlandsgermanistik und Auslandsgermanistik aufzuräumen. Diese Diskussion in Gang gebracht und neue Perspektiven eröffnet zu haben, dies ist der Verdienst, den die Interkulturelle Germanistik bisher geleistet hat. Freilich wurden jedoch gleichzeitig neue Kriterien der Differenzierung ge­schaffen. "Interkulturelle Germanistik" vs. was? Tra­ditionel­le Germanistik, monokulturelle Germanistik? Die Begriffe fehlen, die ver­schiedenen Lager jedoch existieren bereits. Andrerseits gibt es scheinbar eine Art von Begriffsinflation, alle nur möglichen und unmöglichen Begriffs­kombinationen werden beliebig verwendet, "multi-, inter-, intra-" haben Hochkonjunktur. Nach wie vor bleibt die Diskussion auf die sogenann­ten Industrieländer, oder westlichen Länder, oder zivilisierten Länder (auch das keine recht brauchbaren Begriffe mehr) beschränkt. Kanada und Australien werden als eher positive Beispiele genannt, an denen die deut­sche Interkulturalität sich zu messen habe, unerwähnt bleiben ganze Erdteile, in denen Mehrsprachigkeit, Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen, Interkulturalität also konstitutiv für ganze Staaten sind. Kein Wort z.B. über Lateinamerika, über Indien, China, ganz Afrika.

"Interkulturell" wird nicht beschreibend, sondern ganz eindeutig wertend gebraucht. Es wage ein Deutschlehrer heute zu sagen, er habe keine Lust "interkulturell" zu sein, ihm genüge es, die deutsche Sprache, deutsche Literatur zu vermitteln. Eine "lerner­zugewandte Literaturwissenschaft deutscher als fremdkultureller Literatur" sugge­riert, daß es jemals eine "lernerabgewandte Literaturwissenschaft deutscher als ei­genkultureller Literatur" gegeben habe. Gegeben aber hat es bis heute nur und gibt es auch heute noch lustlose Lehrer und abstruse Theorien. Daß es auch immer das Gegenteil davon gegeben hat, macht das Fach weiterhin faszinierend. "Distanz" kann eine Möglichkeit darstellen, die eigenen Bedingungen in ein Verhältnis zum Gegenstand zu bringen, sie ermöglicht es uns also, das zu tun, was eine Voraussetzung einer Beschäftigung ist, die mehr sein will, als bloße Befragung der jeweils eigenen Befindlichkeiten: Mit "Distanz" lassen sich Ortschaften ausfindig machen, die geographische Terminologie läßt sich mühelos in jedes beliebig andere Bezugssystem übertragen.

Wir werden uns in Zukunft daran gewöhnen müssen, daß unser Fach sich zum einen wegen der internationalen Informationsvernetzung um einiges vergrößern wird, zum anderen sich unsere Forschungsschwerpunkte wohl noch mehr in Richtung einer Detaillwissenschaft entwickeln werden. Dabei werden für Definitionsspielereien wie "Eigenes", "Fremdes", "Auslän­disches", "Inländisches", "inter-" oder "intrakulturell" keine Zeit und keine Energien mehr übrig bleiben. Eine mit dem Distanzbegriff operierende Selbsteinschätzung kann rascher und präziser die Bedingungen des wissen­schaftlichen Arbeitens beschreiben. Mehr benötigen wir nicht.

Der Begriff der "Distanz" kann auch bei Curriculaerstellung und Lehrwerkentwicklung als operativer Begriff verwendet werden. Die Frage, ob es sinnvoller ist, daß die Studenten nach einem Jahr Deutschunterricht in einem fiktiven Restaurant sich flie­ßend bei einem imaginären Ober ein unbekanntes Eisbein mit Sauerkraut bestellen können, oder aber einen lite­rarischen Text auf Deutsch oder in ihrer Muttersprache gelesen haben, diese Frage ist lange noch nicht ausdiskutiert. Wenn wir uns der Mühe un­terziehen, unsere jeweiligen Positionen und Ansprüche verständlich zu be­schreiben, werden auch solch scheinbare Gegensätze sich leichter überwin­den lassen.

 

In: Deutsch in und für Asien. I. IDV-Regionaltagung Asien. Beijing 94. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Beijing 1996. S.128-131.

 


Anmerkungen:

 

(1) Das Generalthema des IVG-Kongresses 1990 lautete: Begegnung mit dem "Fremden". Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Naoji Kimura: "Über das Generalthema des IVG-Kongresses in Tokyo 1990 oder: Zur Wirkungsgeschichte der GIG." (= Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Hrsg. v. A. Wierlacher. München 1987. S. 251-258).

 

(2) Das Thema ist nicht neu. Kritisch auseinandergesetzt haben sich mit der Interkulturellen Germanistik u.a. Zoran Konstantinovic: "Interkulturelle Germanistik" oder Komparatistik (= Akten des 10. IVG-Kongresses 1990 in Tokyo. München 1993. Bd. S.45-49). Gabriele Pommerin-Götze: Interkulturelle Kommunikation in multikulturellen Gesellschaften. (= Deutsch als Fremdsprache in einer sich wandelnden Welt. Tagungsbericht der 10. Internationalen Deutschlehrertagung in Leipzig 1993. München 1994. S.335-338). Lutz Götze: Kultur, Kulturbegriff, Kulturpolitik. (= Zielsprache Deutsch 1/1993. S. 52-56).

 

(3) Zur selben Einsicht gelangt auch Siegfried Steinmann: "Ein Fremdsprachenunterricht, der sich interkulturell nennt - im Wortsinne eine Tautologie, als Programmetikett aber durchaus sinnvoll (insofern, als der Arbeitsschwerpunkt akzentuiert wird)..." (= S.Steinmann: "Das Elend der Terminologie. Wissenschaft und Provokation." Zielsprache Deutsch 4/1993. S.232).