Provinz und Kultur

Wenn Landschaft sich zu bewegen beginnt

 

Peter Giacomuzzi

 

 

 

Die Provinz ist das Negativklischee zur Metropole. Eine Erfindung der Moderne, als sich in den Großstädten alles, was Leben, Hoffnung und Zukunft bedeutete, zusammenballte, und dem Rest der Landschaft nichts mehr übrig blieb als Desinteresse, Langeweile. Die Moderne haben wir aber endgültig hinter uns gelassen, derzeit herrscht ein traumhafter Stillstand, nichts bewegt sich. Jede Bewegung wird ängstlich registriert. Wir verteidigen unsere sicheren Schollen. Die Metropolen haben sich zu z.T. unkontrollierbaren bis selbstzerstörerischen Molochen entwickelt, die alles in Besitz nehmen, was greifbar ist. Und da diese Moloche sich unentwegt potenzieren und ausbreiten ist auch die Provinz schon längst darin einverleibt. Provinz und Metropole sind also kein Thema mehr. Daher kann auch „provinziell“ kein Thema mehr sein.

 

Der Begriff „Identität“ wird oft verwendet, als handle es sich dabei um einen Personalausweis, aus dem unmissverständliche und eindeutige Fakten abzulesen wären. In vielen Bereichen hat er den früher gebräuchlichen Begriff „Rasse“ ersetzt. Aussagekräftig sind beide in gleicher Weise, so wie sie absolut inhaltsleer sind. Wer „den Tiroler“ beschreiben will, kann mit gleicher Präpotenz (=Vorsicherheit) jedes andere „Volk“ beschreiben. Z.B.: Die Japaner sind klein, aber sie werden größer. Die Japaner sind fleißig, aber sie werden fauler. Die Japaner sind intelligent, aber sie werden dümmer. Daraus sehen wir, dass der heutige Japaner größer, fauler und dümmer ist. Usw.

 

Dies in Kürze der Hintergrund auf dem die folgenden Überlegungen beruhen, in dem Versuch einen kleinen Überblick über das österreichischen Bundesland Tirol zu geben. Dass dabei die eigenen persönlichen Erfahrungen nicht außer Acht gelassen werden können, dass es sich also in weiten Teilen mehr um subjektive als um objektive Einschätzungen handelt, mag vielleicht die folgende einführende kurze Familienchronik zeigen.

 

 

Von Österreich nach Österreich, von Süd- nach Nordtirol.

3 Biographien und ein bisschen Geschichte.

 

Habsburg

Mein Großvater wurde 1886 in Bozen geboren. Bozen war damals Teil des Habsburgerreiches, das bis zum Gardasee reichte. Er war also Österreicher. Seine Vorfahren kamen allerdings aus der Gegend von Venedig, daher auch der italienische Familienname. Mein Großvater konnte aber bis ans Ende seines Lebens kaum Italienisch sprechen.

Mit Ausbruch des ersten Weltkriegs musste er an die Front nach Norditalien, um gegen die anstürmenden italienischen Truppen zu kämpfen. Vorher hat er noch schnell geheiratet und war dann auch noch, auf Betreiben seiner Frau, der sozialistischen Bewegung beigetreten. Von Beruf Schneider, also ohne besondere Ausbildung außer der Pflichtschule, verteidigte er einerseits recht leidenschaftlich die Habsburger Monarchie gegen die Italiener, andrerseits war er bis zu seinem Tod ein kompromissloser Anhänger der Sozialisten.

Das überraschende Ende des 1. Weltkriegs bestand darin, dass die Italiener noch in den letzten Tagen, als halboffiziell schon Waffenstillstand herrschte, alle der bis dahin von den k+k - Truppen (in den Alpen waren dies vor allem die Kaiserjäger) eroberten Gebiete und einige der ehemaligen k+k - Regionen besetzt. Folge davon war dann, dass im Friedensvertrag von Saint Germain (1919) der südlich des Brennerpasses gelegene Teil von Tirol Italien zugesprochen wurde Dieser Kriegsausgang führte dazu, dass aus dem in Bozen lebenden Kaiserjäger Rudolf Giacomuzzi plötzlich der in Bolzano wohnende italienische Schneider Rodolfo Giacomuzzi wurde.

Mit zunehmender Macht der Faschisten wurde auch Großvaters Widerstand verstärkt. Des öfteren wurde er, wenn ranghohe Faschisten in Bozen zu Besuch waren, in Vorbeugehaft genommen.

Schließlich erzwang bzw. ermöglichte (je nach Interpretation) es ein Abkommen zwischen Mussolini und Hitler (Berliner Abkommen 1939), dass Rodolfo Giacomuzzi 1942 mit seiner Familie Bozen verlassen konnte/musste und nach Innsbruck auswanderte, das damals, nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938, bereits zur sogenannten Ostmark gehörte. So wurde aus dem ehemaligen Kaiserjäger zunächst ein Italiener und schlussendlich ein Reichsdeutscher. Seiner sozialistischen Überzeugung aber blieb er auch weiterhin treu.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde er, als er nun ein viertes Mal die Staatsbürgerschaft wechselte, wieder zu dem, als was er geboren wurde: nämlich zu einem Österreicher, einem Nordtiroler.

Allerdings hatte das Österreich seiner Geburt mit diesem Österreich nicht mehr viele Gemeinsamkeiten: ein völlig anderes politisches System, eine weitgehend neue Staatsgrenze. Auf dieses Österreich aber, auf seine Neutralität und seine in der Verfassung verankerten sozialistischen Werte, war Rudolf Giacomuzzi stolz. Er starb im Dezember 1973 in Innsbruck.

 

Faschismus und Nationalsozialismus

Mein Vater, auch er heißt Rudolf Giacomuzzi, wurde 1917 in Bozen geboren. Ein sogenanntes Fronturlaubskind, auch er kam als Österreicher zur Welt. Nach dem 1. Weltkrieg wurde natürlich auch er Italiener und musste die italienische Volksschule besuchen, da die Faschisten den Deutschunterricht verboten hatten. In sogenannten „Katakombenschulen“ wurde dieser Generation illegal die deutsche Muttersprache gelehrt. Rodolfo Giacomuzzi musste der faschistischen Jugendorganisation „Balilla“ beitreten. Eine sozialistische Grundeinstellung wurde ihm aber durch das Elternhaus vermittelt, doch prägten andere Faktoren, wie Reiselust, Abenteurertum, der Wunsch nach dem „schnellen, vielen Geld“ viel stärker seinen Charakter. Er entwickelte sich bald zu einem, wenn auch harmlosen, schwarzen Schaf in der Familie. Als Uhrmacherlehrling blieb er bis 1942 in Bozen, ging dann mit seinen Eltern nach Innsbruck, wurde damit auch Reichsdeutscher und auch sogleich der Wehrmacht unterstellt.

Die meiste Zeit des Krieges verbrachte er in Norwegen und Finnland, über einige Stationen seines Soldatenlebens spricht er nicht. Die Nazis hatte er gehasst, besser verachtet, aber er sagt auch, dass er bis zu den Nürnberger Prozessen nicht an die Greueltaten der Nazis glauben wollte.

Nach dem Krieg, während der Besatzungszeit der Alliierten, war er in Innsbruck Mitglied einer Schmugglerbande, hauptsächlich ging es dabei um Zigaretten. Er wurde dafür zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt, flüchtete aber, bevor das Urteil vollstreckt wurde, 1948 nach Bozen. Dort lernte er meine Mutter (über die eine ähnlich komplizierte Chronik zu schreiben wäre) kennen, die er 1950 heiratete.

Um seine Staatsbürgerschaft hat er sich nie mehr gekümmert, weshalb er bis heute noch deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Italien ist. Mit zunehmendem Alter wird für ihn ein nicht näher definiertes Österreichbild wichtig, mit dem er sich immer mehr identifiziert. Deutscher? Nein, Deutscher sei er keiner, aber Österreicher, ja, das sei seine Identität.

Als ich ihm erklärte, dass unsere Tochter Gabriella heißen sollte, sagte er, das sei ganz schlecht. Das klinge ja ganz italienisch. Als ich ihm darauf erwiderte, Giacomuzzi sei auch kein typisch deutscher Name, sagte er, das sei was völlig anderes. (Unsere Tochter heißt jetzt Daniela.)

So ist auch mein Vater am Ende seines Lebens zu dem geworden, was er zu Beginn gewesen war: ein Österreicher. Dass er keinen österreichischen Pass besitzt, ist für ihn nicht wichtig. Etwas vom Wichtigsten, das er uns Kindern zu vermitteln versuchte, ist die fast naive Respektlosigkeit jeglicher Behörde und allen bürokratischen Instanzen gegenüber. Italiener, Deutscher oder Österreicher bin ich, wann und wenn ich es will und nicht irgendwelche Beamten.

 

Nicht- und Post-Moderne

Ich wurde 1955 in Bozen geboren. Da mein Vater deutscher Staatsbürger war, war auch meine erste Staatsbürgerschaft die deutsche.. Mit drei Jahren kam ich, da meine Eltern kaum Zeit für uns Kinder hatten, zu meinen Großeltern nach Innsbruck, also nach Österreich, nach Nordtirol. Dort blieb ich bis zum siebten Lebensjahr, besuchte also auch die erste Klasse der Volksschule. Dann erkrankten meine Großeltern gleichzeitig, woraufhin meine Eltern beschlossen, mich wieder nach Bozen, also nach Italien, nach Südtirol zu holen. Ich hatte als Kind nie das Gefühl, wegen der deutschen Staatsbürgerschaft irgendwelche Nachteile zu haben. Als männlicher Jugendlicher war das im Gegenteil eher ein Vorteil, da man als „Auslandsdeutscher“ keinen Militärdienst leisten musste. Vom italienischen Staat wurde nur verlangt, dass man sich innerhalb eines Jahres nach Erreichen der Volljährigkeit entscheidet, ob man die ausländische Staatsbürgerschaft behalten oder die italienische annehmen wolle.

Volljährig wurde man damals in Italien mit 21. Da ich keinerlei Interesse hatte, ein ganzes Jahr Krieg zu spielen, wollte ich natürlich Deutscher bleiben. Ansonsten fühlte ich mich aber weder als Österreicher, schon gar nicht als Deutscher und nur gelegentlich als Italiener. Auch Tiroler waren wir keine richtigen. Wir wurden dazu erzogen, uns als Südtiroler zu fühlen, was wir denn auch taten.

Als ich 20 war, kam ein neues Gesetz, das das Volljährigkeitsalter auf 18 heruntersetzte. Ich hätte mich also zwischen 18 und 19 für den Beibehalt der deutschen Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Aber zu dem Zeitpunkt, als dieses neue Gesetz in Kraft trat, war ich ja schon 20. Bald darauf erhielt ich dann auch den amtlichen Bescheid darüber, dass ich ab nun italienischer Staatsbürger sei. Meine deutsche Staatsbürgerschaft konnte ich weiter behalten, da ich nachweisen konnte, dass ich die italienische Staatsbürgerschaft nicht freiwillig angenommen habe, sondern dass sie mir auferzwungen worden war. So lebte ich knapp 10 Jahre lang mit zwei Reisepässen.

In der Zwischenzeit war ich nach Innsbruck gezogen, um dort zu studieren. Innsbruck war Nordtirol, war Österreich: Leute, die nur eine einzige Sprache verstanden, eine schreckliche Küche und die Freundlichkeit so schroff wie die Berge, die die Stadt umgeben. Hier war ich zum ersten Mal so etwas wie „stolz“ auf meine Nationalität. „Nicht-Österreicher-sein“ war kein schlechtes Gefühl. Nach Abschluss des Studiums musste ich den Militärdienst in Italien absolvieren. Zum Zivildienst, der einzig sinnvollen Alternative, konnte ich mich, wohl aus Bequemlichkeit, nicht entschließen. Ich war damals 26. Und in diesem einen Jahr bei den italienischen Gebirgsjägern habe ich die letzten Reste an Vertrauen in nationale Identitäten verloren.

Nach dem Militärdienst beschloss ich, endgültig in Innsbruck leben zu wollen und suchte aus rein praktischen Gründen, vor allem wegen der Berufsaussichten als Germanist, um die österreichische Staatsbürgerschaft an. Ich bekam sie 1982 ohne größere Probleme, musste dann aber auf die deutsche und italienische Staatsbürgerschaft verzichten.

Vielleicht ein völkerrechtliches Kuriosum: Die österreichischen Behörden haben mir meine Militärzeit in Italien voll anerkannt, weshalb ich dann in Österreich nicht noch einmal Soldat spielen musste. Allerdings: sollte heute Österreich mit Italien in einen militärischen Konflikt geraten, wenn also Nordtirol gegen Südtirol kämpfen würde, müsste ich die Waffen im buchstäblichen Sinn gegen mich selbst richten, da ich. völkerrechtlich gesehen, sowohl dem italienischen als auch dem österreichischen Heer verpflichtet bin.

 

So viel zu einem möglichen Umfeld, in das man eine einfache Betrachtung über dieses Land betten könnte. Der einfachste Weg, um von einem Ende zum anderen des heutigen Tirol zu gelangen, damit sind die geographisch getrennten, verwaltungspolitisch aber eine Einheit darstellenden Gebiete Nord- und Osttirol gemeint, ist der über Südtirol, über Italien, übers Ausland. Noch dazu ist dem österreichischen Bundesland Tirol die namensgebende Burg abgekommen: Schloss Tirol, der Sitz der Grafen von Tirol, die das Land im 13. Jahrhundert erstmals vereint (bzw. vereint besetzt) hatten, liegt in Südtirol, in der Nähe von Meran.

 

Tirol (Nord- und Osttirol, Österreich)

Die größte Stadt Tirols ist heute Innsbruck, mit ca.110.000 Einwohnern. Innsbruck wurde kurzfristig etwas bekannter, weil dort zweimal, 1964 und 1976, die olympischen Winterspiele abgehalten wurden. Darüber hinaus weiß man im Ausland nicht viel von Tirol. Vielleicht, dass es dort Berge gibt.

Das "klassische“ Bergland für Ausländer, vor allem aus nicht-europäischen Ländern, ist aber die Schweiz. Dort gibt es das Matterhorn, Heidi und Schokolade, so wie in Japan den Fudjyama, die Geisha und rohen Fisch.

Die europäischen Alpenregionen waren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wenig attraktiv und vor allem arm. Die einzigen Ausnahmen waren jene Gegenden, die an einer der wenigen Verbindungsstraßen lagen, die Nordeuropa mit Südeuropa verbanden. Der wichtigste, weil am einfachsten und am schnellsten benutzbare dieser Alpenübergänge war der Brennerpass in Tirol. Innsbruck konnte also dank dieser Straße schon immer von dem regen Handelsaustausch profitieren, der zwischen Italien und Mitteleuropa herrschte.

Die übrigen Ortschaften in Tirol waren allerdings meist sehr arm. Vor allem in den Seitentälern lebten die Menschen unter extrem schwierigen Bedingungen. Diese Kleinbauern, meist auf weit auseinander liegenden Bauernhöfen lebend, konnten normalerweise nur mit viel Mühe die eigene Familie erhalten. Gewinne konnten keine erzielt werden.

 

Das Freizeitparadies

Als im 19. Jahrhundert die Alpen als ein möglicher Zufluchtsort für entweder gelangweilte Großstadtdandys oder müde Fabriksbesitzer entdeckt wurden, war auch für das Land Tirol ein grundlegender Wandel zu vermerken: Aus dem ehemals armen Bergbauernland entwickelte sich im Lauf der Jahrzehnte eine hochalpine Tourismuslandschaft. Traumland Tirol, wenn man so will. Sommergletscherskigebiete, Winter-out-door-swimming-pools, Rafting-Events, Mounten-Bike-Races. International, global, wetterunabhängig und auch unabhängig von jeden Gewissensbissen. Denn: Wo der Gast König ist, muss er auch für seine befristete Herrschaft bezahlen. Und wenn er dazu selbst nicht gewillt sein sollte, wird ihm seine Touristenidentität so lange in den Medien vorgezeigt und gepredigt, bis er endlich auch eingesehen hat, dass der klare Himmel und die frische Luft ihren Preis haben, auch wenn es schon über eine Woche lang geregnet hat. Wenn der König aber ohnmächtig ist, dann sind es die Untergebenen allemal.

Ohne Gäste gäbe es kein Leben mehr in den Bergen und Tälern. Zumindest kein so wohlhabendes Leben, Je „natürlicher“ dem Gast die Natur präsentiert wird, desto künstlicher muss sie notgedrungen gemacht sein, da das Naturbild des Gastes zu 100% von einer „guten“, „lieben“ und „schönen“ Natur beherrscht wird. Die Natur derart den Bedürfnissen des Gastes anzupassen kostet viel, sodass man dies nur finanzieren kann, wenn auch die Einnahmen stimmen, wenn man also eine „gute“ Saison hinter sich hat. Die Landschaft wittert jede noch so kleine Unaufmerksamkeit und holt sich ihre Macht zurück, sobald die finanziellen Schwachstellen etwas um sich greifen. Eine schlechte Saison im Tourismusgewerbe und schon treten Wildbäche aus den Ufern, sausen Lawinen zu Tal, veröden einst gepflegte Almwiesen, weil nicht mehr genügend Geld vorhanden ist, um die von Luxus und Konsum geforderten „Sicherheits- und Schönheitsarbeiten“ in der Natur zu machen.

Heute sind diese Bergbauern fast ausnahmslos nur noch Nebenerwerbsbauern. Haupteinkommen sind Zimmervermietung, Saisonarbeit im Tourismusgewerbe, oder auch finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand und von seiten der EU, da man befürchtet, dass ein Auflassen der Bergbauernhöfe zu einer Versteppung der Alpenlandschaft führen könnte. Die "Schönheit“ der Berge ist also höchstens hundert Jahre alt. Vorher waren dieselben Berge "unheimlich“, Angst einflößend, kalt.

 

Der Bund mit dem Herzen Jesu

In Tirol gehören über 95% der Bevölkerung der katholischen Kirche an. Katholischer Religionsunterricht war bis vor kurzem ein Pflichtgegenstand in der Schule. Der Katholizismus verbindet die Menschen, gibt ihnen ein Gemeinschaftsgefühl. Andersgläubige oder Menschen ohne Religionszugehörigkeit haben es in einer solchen Gemeinschaft naturgemäß sehr schwer. Die Taufe eines Kindes geschieht fast automatisch. Wer seine Kinder nicht taufen lässt, muß in Kauf nehmen, zum Außenseiter deklariert zu werden.

Diese Beziehung zur katholischen Kirche hat ihre Wirkung auch noch in der Politik. Bereits 1796 wurde von den damaligen Fürsten Tirols ein symbolischer Bund mit dem "Herzen Jesu“ geschlossen. Dieser Bund wird auch heute noch alljährlich von der Tiroler Landesregierung erneuert. Der "Herz-Jesu-Sonntag“, der dritte Sonntag nach Pfingsten, ist der offizielle Landesfeiertag in Tirol. Zwar sagt sogar der frühere Bischof von Tirol: "Es wäre abwegig zu meinen, Gott liebe ein Volk mehr als das andere.“ Aber allein die Tatsache, dass der höchste Vertreter der Kirche solch eine Banalität artikulieren muß zeigt deutlich, wie tief dieser Glaube, ein von Gott ausgewähltes Volk zu sein, doch noch verbreitet ist.

 

Herz Jesu Lied

 


Auf zum Schwur "Tiroler Land",

heb zum Himmel Herz und Hand!

Was die Väter einst gelobt

da der Kriegssturm sie umtobt

das geloben wir aufs neue,

Jesu Herz dir ewge Treue!

das geloben wir aufs neue,

Jesu Herz dir ewge Treue!

 

Auf dem weiten Erdenrund

gib es keinen schönern Bund

Lästern uns die Feinde auch

Treue ist Tiroler Brauch

drum geloben wir aufs neue,

Jesu Herz dir ewge Treue!

drum geloben wir aufs neue,

Jesu Herz dir ewge Treue!


 

 

Tradition. Das Gute liegt hinter uns

Die grammatikalische Kategorie der Tradition ist der Singular. Die Pluralbildung nimmt dem Begriff seinen alleinigen Herrschaftsanspruch. „Traditionen“: das würde bedeuten, dass es mehrere Möglichkeiten geben würde. In einem solchen Land ist natürlich alles, was von außen kommt, eine Bedrohung. Dieses Außen ist eine hauptsächlich von der sogenannten "Tradition“ bestimmtes Gebilde, eine nach rückwärts gewandte Theoriebildung, die versucht, den status quo zu legitimieren. Durch solche Prozesse werden dann immer Begriffe wie "Einheit“ oder "Vaterland“ vorgeschoben, um ein Gefühl von Stabilität und Kontinuität zu erzeugen. So wie dem naiven Touristen in Japan oft gerne das Märchen von Inselreich präsentiert wird, und dadurch gleichzeitig die gesamte Expansionspolitik Japans während des letzten Kriegs verschwiegen wird, so wird auch in Tirol natürlich mit viel Pathos und Stolz auf die eigene Geschichte verwiesen, die jedoch so glorreich auch nicht war.

Politisch ist Tirol ein sehr konservatives Land. Noch nie hat eine andere Partei als die konservative ÖVP den Landeshauptmann gestellt. Die sogenannten "linken“ Parteien haben es, aus der Distanz betrachtet; ja völlig verabsäumt, für die Bauern akzeptable Alternativen anzubieten, weshalb es den konservativen Kräften sehr leicht gefallen ist, die Bevölkerung an sich zu binden.

Neben dem Bund mit dem Herzen Jesu musste es demgemäß auch eine weltliche Institution geben, mit der man sich identifizieren kann: Andreas Hofer, Anführer der Tiroler im aussichtslosen Kampf gegen die1809 anstürmenden bairisch-französischen Truppen, welche die Freiheiten der französischen Revolution bringen wollten, die kaum jemand hier wollte. Andreas Hofer ist die Figur, an der sich jedermann wiedererkennen kann: einfach, direkt, mutig und konsequent. Auch wenn diese Konsequenz katastrophale Folgen haben mag. „In meinem Herzen schlägt die Liebe zu Jesu. Da kann nichts falsch sein.“ Dies ist die Botschaft, die gelehrt und gelernt wird.

 

Zeus war kein Stier aus Tirol

Diese doppelte Verflechtung, einerseits mit der katholischen Kirche, andrerseits mit einer sehr konservativen politischen Partei, steht natürlich im krassen Gegensatz zu den gesellschaftlichen Strukturen in Wien. Dort sitzen die "Roten“, die "Linken“, die "Anti-Klerikalen“, aber auch die "Juden“.

Solch einfache und kurze Ausführungen sind natürlich in einer gewissen Weise immer auch "falsch“. Historische Entwicklungen und gesellschaftliche Gegebenheiten lassen sich nicht auf ein paar Seiten zusammendrängen. Bei allen Gegensätzen, die zwischen Tirol und Wien herrschen, ist das "Österreichbewußtsein“ doch in den letzten Jahrzehnten auch in Tirol ständig gestiegen.

Die Europäische Union wird auch Auswirkungen auf die innenpolitischen Entwicklungen der jeweiligen Länder haben. Es gibt z.B. bereits jetzt eine Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer, die staatenübergreifend arbeitet und wo vor allem die gemeinsamen Interessen der Alpenregionen diskutiert werden. Falls diese Entwicklung weiter anhält, wird sich z.B. Tirol verstärkt mit Bayern in Deutschland, mit Savoyen in Frankreich oder mit dem Trentino in Italien zusammenschließen, um eigene Anliegen in Brüssel durchsetzen zu können.

Diese Gewichtsverlagerung auf regionale, staatenübergreifende Probleme wird von den Zentralregierungen in Wien, Rom oder Paris mit Skepsis betrachtet, da dies ja dezentralistische Strömungen sind, die vom System her einem zentralistischen Staatsmodell zuwiderlaufen. Als ein Beispiel dafür sei das sogenannte "Transitproblem“ erwähnt. Der gesamte schwere Güterverkehr läuft derzeit über die Brennerautobahn, also direkt von Bayern nach Norditalien. Durch Tirol fahren täglich bis zu 4000. Lastkraftwagen. Die Folgen davon sind eine starke Luftverschmutzung durch die Abgase, Lärmbelästigung, Gefährdung der Landschaftsidylle, die für den Tourismus wichtig ist usw. Die Zentralregierungen stehen unter dem Druck der Wirtschaftskonzerne und können diese Transporte nicht verhindern, ja zum Teil wird diese Entwicklung noch gefördert. Die Bevölkerung an dieser Transitstrecke wird aber immer unruhiger und hat schon einige Male die Autobahn blockiert. Die Tiroler Landesregierung muß in diesem Fall gegen die Politik in Wien arbeiten, also auch gegen die eigene Partei arbeiten, um bei der Bevölkerung noch glaubwürdig zu sein.

 

Kulturen

Wo es Menschen gibt, ist auch Kultur. Selbst ohne Menschen sprechen wir oft von Kulturen: Fischkulturen, Pflanzenkulturen usw. Weshalb die Frage, ob es denn im Raum xy überhaupt eine Kultur gäbe, entweder als rhetorisch oder als dumm zu verstehen ist. Interessanter allerdings ist die Frage, was denn mit diesem Begriff gemeint sei. Um jetzt nicht in eine unergiebige Begriffsdiskussion hinein zu geraten: Es sei bloß darauf hingewiesen, dass, wenn hier von Kultur gesprochen wird, nur ein kleiner Bereich von dem benannt wird, was u.U. noch alles zu erwähnen wäre. Aus meiner heutigen Sicht betrachtet, wird Tirol im Wesentlichen von zwei Kulturen geprägt: jener religiösen der katholischen Kirche und jener geographischen der Tiroler Alpen. Beides Kategorien, die jedem Konzept von Dynamik oder Fortbewegung zuwider laufen. Dies ist allerdings nur eine oberflächliche, und damit u.U. falsche Beschreibung. Wie alles, jeder Stein, jedes Staubkorn, so bewegen sich auch die Berge, senken und erheben sich. In Jahrtausenden um Millimeter und dann in einem Augenblick um so viel, dass es reicht, ganze Dörfer und Siedlungen zu zerstören. Die Gletscher, gerade erst vor ein, zwei Jahrzehnten dazu erschlossen, dem Gast auch im Sommer das Ski fahren zu ermöglichen, diese Gletscher sind schon wieder auf dem Rückzug. Sie verweigern sich dem Konsum, so sieht es zumindest aus. Je mehr die Berge benutzt, ausgenutzt werden, desto mehr müssen sie gepflegt werden. Desto mehr muss investiert werden. Investitionen aber sind ein dynamisches Element, das nicht leicht mit katholisch-konservativem Denken verbunden werden kann. Und genau an diesen Bruchstellen, an diesen Reibungen entsteht dann das, was man gemeinhin als „Kunst“ bezeichnet: die Auseinandersetzungen mit Unzulänglichkeiten, mit Systemirritationen. Im derzeitigen globalen Wahn werden „Provinzen“ zwar ans weltweite Netz angeschlossen, sind aber, weil eben alle dabei sind, natürlich völlig uninteressant. Was bleibt: New York, Frankfurt, Tokyo und dazu jeden Tag nach dem Zufallsprinzip irgend ein Punkt der Welt. Wenn wir uns in absehbarer Zeit ausglobalisiert haben werden, dann werden wir wieder Zeit finden, für das, was jenseits des Netztes liegt. Bis dahin gilt: auch Tirol hat seine Kultur, nicht nur der Rest der Welt.

 

In: 

ト文化 (Henkyo to bunka=Provinz und Kultur) Chiiki no taidoh Wenn Landschaft sich zu bewegen beginnt.

文化アイデンティティ行方 (bunka aidentiti no yukue = Die Zukunft der kulturellen Identität) . Hitotsubashi Daigaku. Gengoshakkai kenkyuhka. Kokusai shinposium no kiroku. Tokyo 2004. S. 155-167.