Wiener Blut an der schönen blauen Donau.

Ein paar (alte) Überlegungen zu Jörg Haider, Österreich und Europa aus dem Jahr 2000

 

 

Die Empörung, die derzeit in Europa umgeht, und das weltweite Medieninteresse an Jörg Haiders (quasi) Regierungsbeteiligung in Österreich haben ihre guten Gründe. Darüber sich zu unterhalten ist schon fast müßig. Ob Haider ein moderner Faschist ist, ein Rechtsextremer, ein Populist, ein Neonazi oder was auch immer, darüber mögen kompetentere Köpfe sich Gedanken machen. Unverkennbar sind aber sein Hang zu einem straffen Führungsstil (seit 14 Jahren absoluter „Beherrscher“ seiner Partei), seine Sympathie für alles Nationale und Volkstümliche, seine Abgrenzung von jeder Form des Marxismus (also auch von der Sozialdemokratie) und seine Ausländerpolitik, die sich des Öfteren schon hart an der Grenze zum Rassismus bewegt hat. Diese Haltung ist in allen seinen Reden nachzulesen, ja es ist sogar gerichtlicht bestätigt, dass man Haider als jemanden bezeichnen darf, der eine „skrupellose und mörderische Hetze“ betreibt (der Bestsellerautor Johannes Mario Simmel gewann 1996 einen diesbezüglichen Prozess gegen Haider). Die Person Haider ist ein offenes Buch, man braucht sich nicht anzustrengen, hinter irgendwelche Geheimnisse zu kommen, es liegt alles klar und blau wie der Himmel und die Parteifarbe der FPÖ auf der Hand.

 

Das weltweite Medieninteresse ist, mit Verlaub, ein gekünsteltes, und dient primär, wie alle news, die sich die Nachrichtenagenturen rund um den Erdball weitergeben, hauptsächlich der Steigerung von Auflagenzahlen und Einschaltquoten. Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil ich weder Geschichts- noch Politikwissenschaftler bin, sondern mich mit trockenen Vermittlungsversuchen deutscher Grammatik und Lexik abmühe, bleibt nicht viel mehr übrig, als sich dem ersten und einzig übrig gebliebenem Punkt zuzuwenden, der Empörung: von starken Emotionen begleitete Entrüstung als Reaktion auf Verstöße gegen moralische Konventionen. So stehts im Duden. Und da sowohl der Schreibende wie auch der Lesende ihr Handwerk gut gelernt haben, schauen wir natürlich sogleich auch unter Entrüstung nach. Da steht nicht viel. Aber: entrüsten: durch etw. in seinem sittlichen Bewusstsein beleidigt sein u. seiner Empörung Ausdruck geben. Ein Philosoph könnte möglicherweise die jeweils aus dem anderen abgeleiteten Begriffe in einem Denksystem bändigen. Ich kann es nicht. Also lassen wir es bleiben.

 

Als Jörg Haider 1979 ins österreichische Parlament gewählt wurde, war er mit seinen 29 Jahren der jüngste Parlamentarier in Wien. Sieben Jahre später entmachtete er in einem Handstreich den damaligen FPÖ-Parteisekretär Norber Steger, der die kleine Regierungspartei (von 1983 bis 1987 zusammen mit der SPÖ) von ihrem nationalistischen Image etwas zu befreien versuchte, sie jedoch nie über knappe 6% für die Wählerschaft attraktiv machen konnte. Aber selbst dieser liberale FPÖ-Vertreter sagte noch als Vize-Kanzler, dass Mauthausen gemessen an Auschwitz gar kein so schlimmes Konzentrationslager gewesen sein (nachzulesen bei Ringel, Die österreichische Seele S.15) Die FPÖ ging 1955 aus dem Verband der Unabhängigen (VdU) hervor, einer Bewegung, die sich vor allem den deutschnationalen Traditionen der ersten Republik verschrieb. Dass aber lange nicht alle ehemaligen österreichischen Nationalsozialisten nach dem Desaster des Dritten Reichs in dieser Gruppierung eine neue politische Heimat fanden, wusste man innerhalb Österreichs seit eh und je.

„Die Mitglieder der NSDAP, die über ihre Mitgliedschaft hinaus nicht schwerer belastet waren, erhielten vor der Nationalratswahl 1949 ihr Wahlrecht zurück - das bedeutete, dass mehr als 10% der Wahlberechtigten plötzlich aus ehemaligen Nationalsozialisten bestand. Um sie zu gewinnen, versuchten ÖVP und SPÖ sowie vor allem der neu gegründete Verband der Unabhängigen (VdU) stärker Verständnis für die Motive dieser österreichischen Nationalsozialisten zu artikulieren.“ (Nick/Pelinka S.13f)

 

Es ging also schon von Anfang an allein um Stimmengewinne und nicht um politisches, geschweige denn moralisches Bewusstsein. Und es wird hier unterschoben, dass die schwerer belasteten Nationalsozialisten in Österreich mit strafrechtlichen Folgen zu rechnen gehabt hätten, was jedoch keineswegs der Fall gewesen ist. Ein Beispiel für viele „ ist Murer, bekannt als der Schlächter von Wilna, der heute als alter Mann sozusagen unbehelligt in Murnau lebt und dessen Sohn FPÖ-Abgeordneter ist; er wurde einfach, so wie auch die Brüder Maurer, Nowak und etliche andere, freigesprochen". (Schindel)

 

Noch makabrer, wohl einzigartig und gerade deshalb typischer für österreichischen Umgang mit der Vergangenheit ist der Fall von Heinrich Gross. Gross trat 1938 mit 23 Jahren in die NSDAP ein. Kurz nach seiner Promotion, 1940, begann er seine psychiatrische Tätigkeit im Krankenhaus Ybbs in Niederösterreich. Dort machte Gross auch seine ersten Erfahrungen mit der Euthanasie - mit der systematischen Ermordung Kranker. In Wien, wohin Gross bald übersiedelte, arbeitete er in der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ an einem Kindereuthanasieprogramm mit. Behinderte Kinder wurden untersucht, fotografiert und anschließend ermordet. 238 Totenscheine tragen die Unterschrift von Gross. Nach dem Krieg trat Gross in die SPÖ ein, wurde bald Primar und kehrte als solcher sogar an die Stätte seiner Verbrechen zurück. 1950 wurde er zwar in erster Instanz wegen Mitschuld am Todschlag verurteilt, in zweiter Instanz wurde dieses Urteil jedoch aufgehoben und die Staatsanwaltschaft zog die Klage zurück. Gross machte eine steile akademische Karriere, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und wurde ein vielbeschäftigter psychiatrischer Gutachter vor Gericht. 1974 war Gross als Sachverständiger beim Prozess gegen Friedrich Zawrel. Zawrel war als Kind in der Anstalt „Am Spiegelgrund“ und erkannte Gross wieder. Der Skandal wurde keiner, Zawrel aufgrund des Gutachtens von Gross zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, Gross war daraufhin weiter und, von einigen Protesten abgesehen, unbescholten als Primar und Gerichtsgutachter tätig.. Im März 2000 soll Gross nun doch endlich der Prozess gemacht werden. „Vernehmungsunfähigkeit“ des 84jährigen Angeklagten wird vermutlich der letzte Akt dieser deprimierenden Groteske sein. (Nachzulesen bei Pelinka, Zur österreichischen Identität)

 

Die FPÖ war bis 1983, im Gegensatz zur deutschen Schwesterpartei FDP, Repräsentantin für das Ewig-Gestrige, für die Deutschnostalgiker. Mit Eintritt in die Regierung Kreisky 1983 änderte sich das aber schlagartig. Vertreter der Partei standen plötzlich im (innen)politischen Rampenlicht, erste Schwierigkeiten mit der beschönten Vergangenheit brachen auf, wurden aber immer sofort und effektiv wieder unterdrückt. Als der damalige Parteisekretär und Nationalratspräsident Friedrich Peter mit seiner Vergangenheit als SS-Offizier konfrontiert wurde, musste er sich gar nicht selbst verteidigen. Der sozialistische Bundeskanzler Bruno Kreisky stellte sich mit all seiner Macht vor seinen Koalitionspartner, und ließ nicht den geringsten Zweifel an dessen politischer Integrität aufkommen. Wenig später begrüßte der damalige Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) den als Kriegsverbrecher verurteilten SS-Major Walter Reder, der aus der italienischen Haft entlassen worden war, bei dessen Ankunft auf dem Flughafen Graz mit einem freundlichen Handschlag. Das Ausland tobte nur kurz, den nach rückwärts Blickenden konnte immer vorgehalten werden, dass es ja um die Zukunft Österreichs gehe und nicht um seine Vergangenheit. Und dass selbst letztere eine weiße und saubere sei, war klar, hatten doch die Alliierten selbst das „label“ vom ersten Opfer Hitlers (Moskauer Deklaration 1943) auf das Nachkriegsösterreich gekleistert.

 

Spätestens also seit 1983 konnte ganz Europa, und hätte wohl auch müssen, die politischen Hintergründe und praktischen Handlungen der FPÖ beobachten. Dieses Europa war aber von dem heutigen, zumindest was die parteipolitischen Mehrheiten betrifft, ein grundsätzlich anderes. In Italien führte gerade der Sozialist Bettino Craxi das Land in eine tiefgreifende Krise mit langjährigen und einschneidenden Reformen im gesamten politischen System, die eiserne Lady Margaret Tatcher war noch eiserner wegen des erfolgreichen Falkland-Kriegs 1982, Helmut Kohl stand in Deutschland gerade am Beginn seiner Rekordkanzlerschaft, der Ost-West-Dialog befand sich noch in den empfindsamsten Ansätzen usw. Das Interesse an Österreich war also, gelinde gesagt, gering. Das Nachkriegseuropa und die USA hatten sich ihre eigene neutrale Insel als politische Projektion geschaffen und zeigten wenig Interesse daran, sich die nostalgischen Bilder von springenden Lipizzanern, jodelnden Bergsteigern und walzerbetrunkenen Biedermenschen zerstören zu lassen. Umgekehrt erzeugte auch diese Ruhe bzw. das Desinteresse von außen das, was man eine neue österreichische Identität bezeichnen kann. Österreich war ein friedliches Land. Nach außen hin zeigt sich das in der Beteiligung österreichischer Soldaten an UNO-Friedenstruppen und einer vor allem durch Bruno Kreisky verkörperten Vermittlerfunktion in internationalen Krisen und Konflikten. Nach innen bewirkte ein in Europa einmaliges System von politischer Vorabsprache der einflussreichsten gesellschaftlichen Funktionsträger, genannt Sozialpartnerschaft, dass größere soziale Reibflächen bereits im Vorfeld politischen Agierens bereinigt wurden. Wenig schien darauf hinzudeuten, dass sich diese Lage in kürzester Zeit radikal verändern sollte.

 

Mit Kurt Waldheim trat 1986 ein weltweit angesehener Mann als unabhängiger Kandidat der ÖVP für die Bundespräsidentenwahl an. Waldheim war von 1972 bis 1980 Generalsekretär der UNO und galt dadurch als aussichtsreicher Bewerber für ein Amt, das seit Kriegsende ununterbrochen mit einem von der SPÖ unterstützten Kandidaten besetzt wurde. Sein damaliger SPÖ-Konkurrent Rudolf Streicher lag daher auch noch gut im Rennen, trotz des großen Imagevorsprungs, den Waldheim hatte. Mitten in den Wahlkampf, der in Österreich bei einer Bundespräsidentenwahl traditionell ruhig und emotionslos verläuft, da das Staatsoberhaupt direkt gewählt wird und außer Repräsentationsaufgaben kaum politische Macht hat, in diese ruhige Zeit hinein platzte wie eine Bombe die Nachricht von Waldheims Beteiligung an Aktionen der Wehrmacht in Griechenland. Als ehemaliger UNO-Generalsekretär stand er natürlich auch sofort im Blickpunkt der internationalen Medien. In seiner Autobiographie hatte Waldheim angegeben, die Kriegsjahre wegen einer Verletzung zumeist als Fronturlauber verbracht zu haben. Die Proteste des Auslands brachten eine entscheidende Wende in den Wahlkampf: um den SPÖ-Kandidaten kümmerte sich niemand mehr, die Diskussion ging nun nur noch um Waldheim und dessen Vergangenheit, die zu einer symbolischen Vergangenheit der 2. Republik wurde. Die „internationalen und jüdischen Weltverschwörungen“ erlebten eine fröhliche Wiedergeburt, Waldheim wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt nach dem Motto „mir san mir". Und damit schaffte Waldheim etwas, was bis dahin nur ein Sportler geschafft hat: das Gefühl einer nationalen Identität. Als dem Skirennläufer Karl Schranz 1974 bei den olympischen Winterspielen in Sapporo vom IOC die Teilnahme wegen eines Verstoßes gegen die damals noch rigiden Amateurbestimmungen versagt wurde, und Schranz über Nacht nach Wien zurückfliegen musste, wurde ihm dort ein Empfang bereitet, der viele an den Jubel erinnerte, der Hitler in Wien zuteil wurde: 100.000 säumten die Straßen und waren sich einig: hier geht es um mehr als  nur um das Skifahren, hier geht es um uns. Druck von außen schafft Schulterschluss. Schranz, Waldheim, Haider. Die Mechanismen sind dieselben und es ist verwunderlich, dass sie dermaßen perfekt funktionieren.

 

Kurz nach Waldheims innenpolitischem Triumph und außenpolitischem Desaster - er blieb während seiner gesamten Präsidentschaft völlig isoliert -, übernahm der damals 36jährige Jörg Haider in einer putschartigen Blitzaktion während des FPÖ-Parteitages in Innsbruck die Führung der Partei. Er war, aufgrund seiner Funktion als Nationalratsabgeordneter, kein Unbekannter mehr. Derbe Sprüche, Agitprop aus Biertischgesprächen, eine Rhetorik wie man sie bis dahin nur mehr aus der Vergangenheit zu kennen glaubte. Haiders Programm sind die Wahrheiten der österreichischen Stammtische. Und dort waren Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Gesamtdeutschtümeleien auch in den 80ger Jahren die wichtigsten Ingredienzien für männlichbesoffene Abende. Zusammen mit dem Gefühl von Ohnmacht gegen „die da oben“ ergibt sich ein explosives Programm, das die relativ starren und uninteressanten Regeln konventioneller Politik bei weitem an medialer Wirksamkeit übertrifft.

 

Die Partei, die keine ist. Denn „die Freiheitlichen“ sind eine „Bewegung“, wollen sich nicht festlegen auf das enge Mieder des Parlamentarismus. Für einfaches Denken geht Bewegung bekanntlich im Zeitfaktor immer und nur nach vorne. Vergangenheit spielt in diesem Muster nur eine Erinnerungsfunktion, hat jedoch nichts mit Handlung zu tun, die ausschließlich auf das Jetzt, bzw. auf das Morgen gerichtet ist. Daher spielt es auch überhaupt keine Rolle, dass Haiders Eltern selbst Nazis waren, dass Haider heute zu einem der wohlhabendsten Männer des Landes gehört, weil seine Eltern das Bärental, ein 38.000 Hektar großes Grundstück in Kärnten, zu einem Spottpreis 1939 von den damals zu diesem Schritt gezwungenen jüdischen Besitzern abgekauft haben, dass Haiders erster größerer Auftritt in der Öffentlichkeit der erste Preis bei einem Rednerwettbewerb zum Thema „Sind wir Österreicher Deutsche?“ war und dass diese Rede dann in der Deutschen National Zeitung unter dem Titel „Wie deutsch ist Österreich?“ erschienen ist. Undsoweiter. Eine schier endlose Liste. Die dem Konzept einer Bewegung keineswegs hinderlich ist, da die blauen Augen nach vorwärts gerichtet sind. Auf größere Aufgaben, auf die Zukunft.

 

Wir sind einfach völlig anders als Rot und Schwarz. Wir sind eine andere politische Kategorie. Wir sind nicht im System geboren, sondern wir entstanden, um dieses System politisch zu erneuern und grundlegend zu demokratisieren. (...) Das besondere an den Freiheitlichen ist, dass wir nicht da draußen mit denen reden, sondern wir sind ein Teil von denen da draußen. Und das, meine lieben Freunde, macht auch uns politisch so interessant. (Rede von Jörg Haider beim Neujahrstreffen der FPÖ am 9. Jänner 2000)

 

Die Frage stellt sich also nicht etwa nach dunklen, geheimen Unter- oder Hintergründen. Haider sagt, was er denkt. Und er denkt einmal so, dann wieder anders. Er selbst also garantiert für „Bewegung“, ist diese Bewegung (so hat er z.B. seit 1988 als Einzelperson das Recht, Funktionäre, die der Parteilinie zuwiderhandeln, mit Funktionsverbot zu belegen oder auszuschließen). Die Frage lautet vielmehr: Warum wird er gewählt? Von so vielen? Die Wahrscheinlichkeit, dass die FPÖ bald stimmenstärkste Partei in Österreich wird, ist groß geworden. Von 5% auf ca. 30% in 14 Jahren hat wenig mit einmaligen Situationen oder gar mit spontanem Protest zu tun. Letzterer wurde in all diesen Jahren auch von Haider-Gegnern immer wieder und gerne dazu benutzt, um den Erfolg der FPÖ zu erklären. Nun hat dieses Argument durchaus seine Berechtigung, betrachtet man die Starre und oft bis an Verbissenheit mutende Politikkultur von SPÖ und ÖVP. Aufteilung von Macht und Kompetenz in allen Bereichen des Alltags. Parteibuchwirtschaft heißt das im Alltag und besagt, dass nur jene in alle wichtigen und wichtigeren Posten einen Zugang finden, die Mitglieder einer der beiden Großparteien sind. Dieses System wurde derart perfektioniert, dass es selbst in den kleinsten Gemeinden funktioniert, wo dann z.B. Aufträge von Bauarbeiten, Einstellungen in öffentliche Verwaltung usw. nach diesem System vergeben bzw. besetzt werden. Und wenn man so will, kann man hier auch die aktuellen Wurzeln zur Xenophobie in Österreich finden: entweder du hast ein Parteibuch der ÖVP oder der SPÖ. Alles andere hat in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens keine Möglichkeit der Existenz. In diesem Sinne ist Jörg Haider in perfiderweise ein „Ausländerfreund“, ein Freund des „Anderen“, des „Neuen“. Und macht die Ausländerfeindlichkeit selbst zu Thema, womit er den meisten Stammtischen des Landes aus dem Herzen spricht.

 

Der Missmut an unseren demokratischen Strukturen wächst. In Deutschland scheint derzeit die CDU an einer gefährlichen Schwelle der Selbstzerstörung zu stehen, in Italien wurde in den letzten 10 Jahren zwar das gesamte politische Modell umgekrempelt, ganze Reihen von Politikern ausgetauscht. Das alte vom neuen System zu unterscheiden ist allerdings schwierig. Fulvio Andreotti, die Schlüsselfigur für 40 Jahre Korruption und Macht, ist 1999 von der Anklage wegen Beihilfe zum Mord, Kontakten zur Mafia u.a.m., freigesprochen worden und sitzt jetzt wieder als Ehrensenator im römischen Parlament. In der Schweiz ist die SVP von Christoph Blocher, der selbst auf seiner eigenen home-page für sich u.a. mit einem Interview mit der Deutschen National Zeitung wirbt, zur stimmenstärksten Partei geworden.

 

Die europäischen Sozialisten haben in den letzten 20 Jahren einen gewaltigen Schritt in die Mitte tun müssen, um an die Macht zu kommen. Es scheint so, dass die europäischen Volksparteien nun mehr oder weniger geschlossen einen Schritt nach rechts machen müssen, um wieder an Konturen zu gewinnen, um wieder attraktiv zu werden. Ein makabres Beispiel von Gesinnungswandel: Der ehemalige RAF-Anwalt Horst Mahler und wegen Unterstützung derselben 1974 zu 14 Jahren Haft verurteilt, hält im letzten November in Wien einen Vortrag zu Thema: "Der Verrat Adolf Hitlers an der deutschen Linken. Der Verrat der Linken an Deutschland. Hat das deutsche Volk eine Zukunft?“ Ort der Veranstaltung war der Freiheitliche Akademikerverband, eine der FPÖ nahe stehenden Organisation. Mahler könnte auf Grund des Wiederbetätigungsgesetztes ohne größeren Aufwand der Prozess gemacht werden ("Den Juden wurde der Hass auf andere Völker auferlegt. Die anderen Völker haben diesen Hass nur erwidert"). Er erhielt aber im Gegenteil von den freiheitlichen Akademikern tosenden Applaus (s. profil 48/99). Wenn auch Mahler natürlich nicht als repräsentativ für die europäische Politik angesehen werden kann, so legt sein Beispiel doch dafür Zeugnis ab, dass noch immer vieles möglich ist, wovon wir oft fälschlicherweise der Meinung sind, dies sei längst schon „verarbeitet“ bzw. „bewältigt“. Die Verarbeitung scheint Arbeitslose geschaffen zu haben und die Bewältigung Gewalt. Ließen sich gesellschaftliche Phänomene derart einfach erklären, wäre Politik ein einfaches Geschäft. Jörg Haider erklärt so einfach.

 

Die Empörung ist also groß. Die Unsicherheiten zwischen: Sollen wir warten, bis der Spuk wieder vorbei ist? und: Auch Hitler wurde demokratisch gewählt! lassen viele Aktionen eher schwerfällig und hölzern aussehen. Der Widerstand zerbröckelt, bevor er sich formiert hat. Während bei einem EU-Ministertreffen der EU-Arbeits- und Sozialminister in Lissabon am 10. Februar 2000 die französische und belgische Ministerin demonstrativ den Saal verließen, als die neue österreichische Ressortchefin Elisabeth Sickl von der FPÖ mit ihrer Rede begann, besuchte am selben Tag eine Delegation der CSU entgegen den von den EU-Regierungschefs vereinbarten Boykottmaßnahmen die neue österreichische Regierung in Wien. Der Schriftsteller Robert Menasse bezeichnete die Entwicklungen in Österreich „seit 1986 insgesamt als einen politischen Fortschritt“ (zitiert aus einem Artikel in DIE WELT 07.02.00), sein bairischer Kollege Franz Xaver Kroetz gar findet Haider „viel symphatischer“ und würde mit ihm auch „hundert Mal lieber ein Bier trinken gehen“ als mit Wolfgang Schüssel (profil 05/00).

 

Aufklärung und Werbung. Das Dilemma, in dem sich heute all jene befinden, die Haiders Erfolgen mit Verunsicherung bis Panik begegnen ist ein doppeltes. Zum einen sind ÖVP und SPÖ in einem derart katastrophalen ideologischen wie auch organisatorischen Zustand, dass sie als Alternative bzw. als Garanten einer „besseren“ Politik derzeit einfach nicht mehr in Frage kommen. Zu lange an der Macht und mit der Macht verbrüdert, zu wenig Bereitschaft, sich den seit Jahrzehnten anstehenden innerparteilichen Reformen zu unterziehen. Das Beispiel der Grünen in Deutschland, wo Außenminister Fischer den NATO-Einsatz im Kosovo verteidigte, wie es der beste Konservative nicht besser hätte tun können, gibt auch den Grünen in Österreich nicht gerade viel neue, wesentliche Impulse, um sich ein Parteiimage zu schaffen, das aus dem derzeitigen Politsumpf irgendwie positiv herausragen würde. Auf der anderen Seite stellt sich in Zusammenhang mit dem Problem Haider immer öfter die Frage nach der Strategie, mit welcher man gegen ihn vorgehen könnte. Die Diskussion darüber gibt es in Österreich bereits seit Haiders Übernahme der FPÖ 1986 und europaweit spätestens seit dem Beschluss der EU-Regierungschefs in diesem Jahr. Es handelt sich hier in erster Linie um die Dualität der Begriffe „Aufklärung“ und „Werbung“. Je mehr in den Medien über Haider berichtet wird, desto attraktiver wird sein „Marktwert“. Haider braucht im Grunde nicht viel mehr zu tun als abzuwarten. Die Medienmaschine scheint für ihn zu laufen, und seine Gegner sind inzwischen auch schon darüber entzweit, ob man ihn tatkräftig „bekämpfen“ soll, oder ob es besser wäre abzuwarten, um dann Haiders konkrete politische Handlungen zu bewerten. Solche Auseinandersetzungen funktionieren jedoch nur auf der Basis einer allgemeinen Verunsicherung. Die traditionellen Träger demokratischer Grundwerte, wie Parteien, Kirche, Gewerkschaft usw. befinden sich selbst, nicht nur in Österreich, in einer nun bereits schon Jahre andauernden Identitätskrise. Vor allem können sie, da z.T. ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, keinerlei Visionen oder Perspektiven für die Zukunft entwickeln. „Was wird, wenn Sie mitregieren, in Österreich als Erstes anders?“ fragt DIE ZEIT in einem Interview. „Der Stil“, antwortete Haider (ZEIT 06/00). Aber: Haider regiert (noch) nicht mit. Er ist kein Regierungsmitglied. Trotzdem begegnen ihm viele Reporter schon so, als sei er bereits Bundeskanzler. „Was hat Österreich denn von einer durch Sie gesteuerten Wende zu halten?“ „Strukturelle Reformen ...“ (Der Spiegel 05/00) In diesem Sinne tragen die Medien selbst einiges dazu bei, dass man sich an Haider gewöhnt, dass er zum politischen Alltag dazugehört.

 

Die „Kronen Zeitung“ ist gemessen an dem Verhältnis Einwohnerzahl : Druckexemplare die auflagenstärkste Partei weltweit. Ein Boulevardblatt, das in Österreich schon des Öfteren maßgeblich am Prozess der Meinungsbildung mitgewirkt oder mitzumischen versucht hat. Im Dezember 1999 schwenkte das Blatt von einem Haider-symphatisierenden zu einem kompromisslosen Anti-Haider-Kurs um. „Solange Hans Dichand (Eigentümer der Kronen Zeitung) nicht will, kann Jörg Haider von der Kanzlerschaft nur träumen“ schrieb das Wiener Wochenmagazin „profil“ (49/99).

 

Eine Variante dieser schwierigen Auseinandersetzung mit Jörg Haider lässt sich auch in der zeitgenössischen österreichischen Literatur finden. „Haider als literarisches Motiv“ wäre als Thema einer größeren Arbeit durchwegs schon denkbar, haben sich doch eine Vielzahl von AutorInnen damit auseinandergesetzt. In dem 1995 erschienen Roman „Opernball“ beschreibt Josef Haslinger die Wiener Vorstadt wie folgt: "In den Gemeindebauten, einst der Stolz sozialistischer Kommunalpolitik, wilderte nun Jup Bärenthal, der Chef der Nationalen Partei." Dieser Bärenthal spielt natürlich direkt auf Jörg Haiders bereits erwähntes Grundstück gleichen Namens an. Interessanterweise hat aber Haslinger, im Gegensatz zu anderen realen Politikerpersönlichkeiten, die in seinem Roman auftreten (z.B. Carrington, Karadzic oder Ian Smith), Haider literarisch sozusagen „neu inszeniert“. Eine direkte Gleichsetzung Bärenthal = Haider wird also vermieden und letzterer dadurch eher „mythifiziert“ als „entlarvt“. Ähnliches lässt sich auch bei G. Roth., E. Jelinek u.a. nachweisen.

 

Haider und die FPÖ haben in Bezug auf Kunst und Kultur eine einfache Linie. „Wir wollen diese Dinge weg!“ schimpfte 1998 ein FPÖ-Landesrat in Bezug auf das alljährliche Mysterienspektakel des Aktionskünstlers Hermann Nitsch. Immer wieder haben sich Haider oder seine Parteifreunde zu kulturellen Fragen geäußert, jedes mal waren es vor allem ablehnende bis diffamierende Statements (Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk ... - oder Kunst und Kultur?) zu oder über bekannte/n Persönlichkeiten in der österreichischen Kulturszene. Dementsprechend überrascht es auch nicht, dass im Regierungsprogramm der neuen Koalitionsregierung von „Förderung der kulturellen Ausdrucksformen der Regionen“, „Volkskultur“, „ausgewogenere regionale Verteilung der Mittel“ und „Pflege des österreichischen Kulturguts“ die Rede ist (profil 06/00).

 

„Die auf dem Boden der Aufklärung gewachsenen, für Europa prägenden Ideen und Gesellschaftssysteme sind überholt, am Ende oder überhaupt gescheitert. Das gilt für den Sozialismus ebenso wie für den Liberalismus.“ So beginnt Haiders politisches Bekenntnis „Die Freiheit, die ich meine. Das Ende des Proporzstaates. Plädoyer für die dritte Republik“ (1993 Ullstein). Wie immer ist auch hier die Richtung eindeutig und lässt beim Leser keine Zweifel aufkommen: Es geht nach vorne, kein Blick zurück, der die großen bevorstehenden Aufgaben stören oder auch nur irritieren könnte. Und diese großen Aufgaben sind in erster Linie zwei: Einwanderungsstopp und Entfilzung der Bürokratie sowie Einbindung der Volksgemeinschaft in die wichtigsten Aufgaben des Landes. Die Diktion wird, vor allem beim Thema „Kultur“ immer und gerne schnell faschistoid, sofern das heute überhaupt noch ein brauchbarer Begriff geblieben ist. Wer hier skeptisch werden sollte, mag in dem rechten Wochenblatt "Zur Zeit "ein bisschen blättern, dessen Chef der Kulturberater von Jörg Haider, Andreas Mölzer, ist. Mölzer musste zwar von Haider nach außen hin fallen gelassen werden (u.a. auch wegen folgender Äußerung: "Wer die 'Umvolkung' der Österreicher betreibt, nur um den deutschen Charakter des Landes zu tilgen, muss sich den Vorwurf des antigermanischen Rassismus gefallen lassen. Europa insgesamt aber täte gut daran, sich verstärkt gegenüber der übrigen Welt abzuschotten"), ist aber nach wie vor einer der engsten Vertrauten von Haider und stellt sozusagen dessen direkten Verbindungskanal zu rechtsaußen stehenden bis rechtsextremen Gruppierungen dar.

 

Die Burschenschaften in Österreich, denen sowohl Haider, Mölzer als auch eine Reihe anderer Parteifunktionäre der FPÖ angehören, sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. "Die Deutsche Burschenschaft (DB) sieht das deutsche Vaterland unabhängig von staatlichen Grenzen in einem freien und einigen Europa, welches Osteuropa einschließt. Sie setzt sich für eine enge Verbundenheit aller Teile des deutschen Volkes in Freiheit ein. Der Einsatz für das eigene Vaterland gebietet ebenso die Achtung der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechtes anderer Völker. Deshalb setzt sich die Deutsche Burschenschaft aktiv dafür ein, daß in einem freien Europa den Angehörigen aller Völker, insbesondere auch allen deutschen Volksgruppen, die uneingeschränkte kulturelle Entfaltung und Selbstbestimmung in anderen Staaten gewährleistet wird." Es mag im nichtdeutschsprachigen Ausland heute schwer nachvollziehbar sein, den Einfluss dieser seltsamen deutschnationalen Studentenverbindungen auch nur annäherungsweise einschätzen zu können, ja es ist selbst in Deutschland dieser Einfluss im akademischen Leben ein relativ geringer. In Österreich hat sich aber, wohl auch wegen der bereits erwähnten, kaum stattgefundenen Auseinandersetzung mit der „österreichischen Schuld“ an den Ereignissen vor und während des 2. Weltkriegs, die Tradition dieser Organisationen bis heute noch als durchwegs einflussreich erwiesen. Eindeutig bekennende Rechtsextremisten sind oder waren Mitglieder „schlagender Verbindungen“, wie z. B. der Österreicher Norbert Burger, eine Schlüsselfigur in der 1988 verbotenen Nationaldemokratischen Partei (NDP). Es gibt von Seiten Haiders oder seiner Gefolgsleute keinerlei Stellungnahmen, sich von derart eindeutig nationalistischen Organisationen zu distanzieren. Noch ein Beispiel für die Richtung der DB: Beim Coburger Convent, dem Zusammenschluss von über einhundert schlagenden Turner- und Landsmannschaften kam es vor drei Jahren (1994) bei der Jahresversammlung zum Eklat, als beim alljährlich in Coburg stattfindenden Verbandstreffen, der Vorsitzende den "ethischen Wert und die beispiellose Hingabe und Opferbereitschaft" von Hitlers Wehrmacht lobte und diese von jeglicher Schuld und Verantwortung an den NS-Verbrechen freisprach. "Wie glücklich", so der Redner weiter, "könnten sich unsere Regierenden und wir uns schätzen, wenn der heutigen Generation nur ein bisschen von dem Idealismus geblieben wäre" (Zellhofer).

 

Haider also ist kein alleinstehender Kämpfer. Und seine Wähler sind keine Protestwähler. Zu lange schon währt sein stetiger Aufstieg, als dass man hier von einem vorübergehenden Phänomen sprechen könnte. Peter Sloterdijk meint zwar, dass man in Österreich „eine politische, auch kulturpolitische, Situation schaffen“ muss, „durch die das Haider-Potenzial auf sein organisches Volumen geschrumpft wird“, und schätzt letzteres „in der Gegend von fünfzehn Prozent“ ein, doch gibt er für diese Annahme keinerlei Grund an (profil 06/00). Haiders erklärtes Ziel war und ist es, Bundeskanzler zu werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ihm dies innerhalb relativ kurzer Zeit gelingen könnte, da dem Kabinett Schüssel niemand eine all zu lange Lebensdauer zutraut. Und dann?

 

Die Demokratie der EU wird sich bewähren müssen. Empörung allein ist nicht viel. Wenn die Parteien keine Alternativen zu Haiders Führungsansprüchen anbieten werden, steht einem allgemeinen europäischen Ruck nach rechts von der Mitte nichts mehr im Wege. Thomas Bernhard schrieb 1984 in seinem Buch „Holzfällen. Eine Erregung“: „Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und deretwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie.“ (Holzfällen, S. 315f.)

 

 

 

 

Literatur

Thomas BERNHARD: Holzfällen. Eine Erregung. Frankfurt/M. 1984. (Suhrkamp)

Jörg HAIDER: Rede beim Neujahrstreffen vom 9. Jänner 2000.

http://cgi.fpoe.at/fa/impuls/2_Aktuell/2_artikel0.html  (nicht mehr auffindbar)

Jörg HAIDER: Die Freiheit, die ich meine. Das Ende des Proporzstaates. Plädoyer für die dritte Republik. Berlin 1993 (Ullstein)

Josef HASLINGER: Opernball. Roman. 1995 Frankfurt/M. (S.Fischer)

Rainer NICK / Anton PELINKA: Politische Landeskunde der Republik Österreich. Berlin 1989 (Colloquium Verlag).

Anton PELINKA: Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa. 1990 Wien (Ueberreuter).

Robert SCHINDEL: Ich war kein schlechter Ping-Pong-Spieler. In: wortlaut.de. Göttinger Zeitschrift für neue Literatur. 1999.

Klaus ZELLHOFER: Ehre, Freiheit, Vaterland. Gesellschaft für politische Aufklärung.

profil. Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs. http://www.profil.at

DIE ZEIT. Wochenzeitung für Politik Wirtschaft Wissen und Kultur. http://www.zeit.de

Der SPIEGEL. http://www.spiegel.de

DEUTSCHE BURSCHENSCHAFTEN http://www.burschenschaft.de

 

 

In: Wiener Blut an der schönen blauen Donau. Ein paar Überlegungen zu Jörg Haider, Österreich und Europa. (Nippon-doitsu gakkai. Japanische Gesellschaft für Deutschstudien. Nr. 30. Tokyo 2000. S. 16-26)